von Frank Wörler
„WAS IST EIN LEBEN WERT? Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Jeder Mensch lässt sich in Euro und Cent aufrechnen“ titelt das aktuelle Magazin „WISSEN“ der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Titelblatt steht auch: „Fotoreportage: Die größte Expedition aller Zeiten“ und ich ergänze innerlich: „Im Zug nach Auschwitz“.
Bin ich zynisch? Oder nur scheinbar zynisch? So, wie der stellvertretende Redaktionsleiter Richard Friebe im Editorial des Heftes schreibt: „Die scheinbar zynische Frage auf dem Titelblatt muss man stellen.“ Dieser junge Mann wird seiner beruflichen Aufgabe gerecht: Man „muss“ die Frage stellen. „Wie viele Menschen können in einem Güterzug transportiert werden?“ Auch diese scheinbar zynische Frage „musste“ beantwortet werden. Das ist das Selbstverständnis des Technokraten - und den wird es vielleicht immer geben. In Sachen Logistik, in Sachen Journalistik.
Auf den ersten Blick präsentiert sich das Monatsheft "WISSEN" menschenfreund-
lich und geradezu behutsam. Fachsprache wird vermieden und der unterhaltende Wert, die Erzählung steht im Vordergrund. Man will eine breite Leserschaft erreichen, es gibt auch eine Rubrik speziell für Kinder: Ein ausgesprochenes Familienheft. Thematisch hält man sich an Diskurse, wie sie an der Spitze einer forschenden Technologie- und Wissensgesellschaft vermutet werden. Auf den zweiten Blick fragt man sich, was in diesem Infotainment noch alles transportiert wird.
Soll hier Vermittlungsarbeit geleistet werden, vielleicht sogar Lobbyarbeit für die universitären Exzellenz-Kluster, die in Zukunft viel Geld bekommen werden? Zumindest die Auswahl der Themen - Biotech, Nanotechnologie und Wirtschaft - und die Praxis sanfter Kritik, die sich umgehend im affirmativen Ganzen wieder auflöst, sind ideologisch. Deutlich wird dies in der Analyse jenes Artikels, der sich mit dem (Geld-)Wert menschlichen Lebens befasst. Was hier als Wissen präsentiert wird, entpuppt sich nicht nur als „scheinbar zynisch“, sondern als exemplarisch für einen Wissensbegriff, wie er der mainstream-Debatte zur Wissensgesellschaft innewohnt. Dieser besitzt eine logistische Richtigkeit mit Neigung zur Tautologie bei gleichzeitiger Abwesenheit von Sinn. So heißt es im besagten Heft Nr. 19 „Jeder Mensch lässt sich in Euro und Cent berechnen. Alter, Geschlecht, Nationalität: Wie Ökonomen, Mediziner und Klimaforscher kalkulieren (...) Knochen, Organe und Gewebe bestehen im Wesentlichen aus acht chemi-
schen Elementen.“
Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, darüber zu berichten, dass in verschiedenen Zusammenhängen Menschenleben mit monetären Größen in Beziehung gesetzt werden, dass reale Preise für Organentnahmen kursieren, dass es Formen von Biopolitik gibt. Im Gegenteil: Die "Erzählungen" des Artikels sind durchaus interessant. Doch die Gleichheit der Menschen darin verwirklicht zu sehen, dass „der Geldwert eines Lebens vergleichsweise hoch und für alle möglichst gleich ausfällt“ offenbart ein antihumanistisches Menschenbild und dürfte selbst den ärgsten aller Utilitaristen noch vom Hocker hauen.
Auch der Philosoph Volker Gerhardt holt uns mit seinem kleinen Kant-Exkurs auf der nächsten Heftseite nicht aus dem ethischen Desaster. Er fragt: „Ist jedes Leben gleich viel wert?“ Er meint, damit den eingangs eröffneten Diskurs nun schärfer ziehen zu können, indem er sich um Lebewesen allgemein kümmert: Also auch um Tiere. Auf der Mitte der Seite zeigt ein Foto - vermutlich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eine festlich gekleidete Großfamilie, die sich über einen Gänsebraten hermacht, irgendwie zivilisiert und gierig zugleich.
Von diesen Menschen als der Gänse Wolf zum Menschen als des Menschen Wolf scheint es nicht mehr weit. Zwar kommt Philosoph Gerhardt auf den „Zweck an sich“ zu sprechen, den Kant dem Menschen zuerkennt. Aber er vermeidet es tunlichst, von jener „Würde“ zu sprechen, wie Kant sie fasst: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Die Würde wäre somit genau das, was „Wert“ eben nicht ist. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es im Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland. Wenn ein solcher Satz nicht mehr verstanden werden kann, von Lesern nicht, und von stellvertretenden Redaktionsleitern nicht, dann existiert auch kein Wissen mehr hierüber. Dann hat sich realisiert, was der österreichische Wissenschaftler Konrad Paul Liessmann „Unbildung“ nennt: Isoliertes unspezifisches Wissen, das sich auf das Abrufen von Formeln beschränkt, ohne dass über die Anwendung und Kontextualität dieser Formeln Wissen bestünde.
Es ist nicht so erstaunlich, dass es Technokraten gibt. Es ist hingegen erschreckend, dass der Diskurs der Wissensgesellschaft verdrängt, was Bildung eigentlich wäre. Im Falle einer Exploration des menschlichen Wertes, müsste man immer auf Begriffe wie „Würde“, auf die geschichtliche Dimension und die kritische Diskussion von „Mensch“ und „Wert“ zurückgreifen. All dies geschieht im Magazin „WISSEN“ der Süddeutschen Zeitung nicht. Hier regiert Unbildung, wie sie die Journalisten dem Unterhaltungsfernsehen abgeschaut haben. Wer wird Millionär? A, B, C oder D?
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die Ansicht, Menschenleben ließen sich verrechnen, war im 20. Jahrhundert Grundvoraussetzung menschenverachtender Staatssysteme. Das Verrechnen „weniger“ heutiger Toter im Kampf für eine bessere Zukunft, die Euthanasieprogramme zur „Aufwertung“ des allgemeinen Erbguts, die rassistischen Ideologien sind beredte Beispiele hierfür.
„Was ist ein Leben wert? Jeder Mensch lässt sich in Euro und Cent berechnen. Alter, Geschlecht, Nationalität“ bedeutet in letzter Konsequenz den Boden zu liefern für sozialdarwinistische Argumentationen. Das Magazin „WISSEN“ der Süddeutschen Zeitung hält sich jedoch von geschichtlichem Wissen fern, solange es nicht um „die Geschichte“ geht. Dies ist tagesjournalistisch gewöhnlich, aber im Sinne einer Weitergabe von Wissen - verantwortungslos.