Philosophie ohne Eigentum – Glas von Jacques Derrida
von Ole Frahm
Ein obszönes Buch. Für die Geschichte der Philosophie vielleicht nicht obszöner als Jean Genets Romane für die Geschichte der Literatur – aber die Dreistigkeit, mit der Jacques Derridas sechstes Buch Glas angelegt ist, die Souveränität, mit der es immer in der Durchführung und nie in der Behauptung, immer performativ, nicht konstativ in zwei parallelen Kolumnen durch Hegels Philosophie und Jean Genets Romane wandelt, sie auflöst und wieder zusammenbindet, sie niederreißt, aufrichtet und – nicht nur von ihrem Thron – herunterholt, beeindruckt 32 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, als sei die Zeit stehen geblieben. Hier schreibt noch nicht einer, der seitenlang nicht weiß, wo er anfangen soll, sondern einer, der immer schon angefangen hat mit der geduldigen Arbeit der Dekonstruktion, die auch in der spekulativen Dialektik Hegels, Träger des Ehrenkreuzes Roter Adler, immer schon am Werk war. Jeder noch so banal daherkommende Kalauer – die Homophonie von Hegel und Adler (l’aigle) im Französischen –, die auf den ersten Blick den lächerlich zornigen Derridada-Kritikern recht zu geben scheint, vernetzt sich in einer weiteren Bedeutung, beispielsweise wenn Derrida Hegel zitiert: »Nur vollendeten die Israeliten dieses schöne Bild nicht, diese Jungen sind keine Adler geworden; sie geben eher im Verhältnis mit ihrem Gotte das Bild eines Adlers, der Steine – getäuscht – erwärmte, ihnen seinen Flug vormachte und sie auf seinen Flügeln mit in die Wolken nahm, deren Schwere aber nie zum Flug, deren geliehene Wärme aber nie zur Flamme des Lebens aufschlug«. Derridas Lektüre vollzieht solche Texte nach, im Bild des Adlers geht es um die Aufhebung selbst, eine Figur Hegel’scher Dialektik, der Dialektik des Adlers, der Eier wärmt und zur Flamme des Lebens entzündet.
Doch der Stein bleibt, er fällt, vielleicht wird er sogar zum Grab der spekulativen Dialektik, von dem sie jederzeit wieder auferstehen kann. So liest sich die linke Kolumne von Glas wie eine Einführung in Hegels Philosophie. Seine Ethik, seine Religionsphilosophie, die Philosophie des Rechts und die Phänomenologie des Geistes, Hegels Anspruch, die Philosophie zu beenden, werden diskutiert, ausführlich zitiert und – aufgrund der Bedeutung der Familie in seinem Werk, des Verhältnisses von Schwester und Bruder, des antiken Vorbilds, der Antigone, und der christlichen Familienverhältnisse von Vater und Sohn und Mann und Frau – um Zitate aus Briefen Hegels an seine Frau und seine Schwester ergänzt. Gelegentlich liest sich gehässig, was Derrida da zusammenträgt, aber die ausführlichen Zitate (ganze Briefe sind zu lesen) geben das Urteil vollständig an den Leser weiter. Die Auswahl zählt, die Rekombination der Zitate, das Ignorieren tradierter Lektüren, um von der Familie her erneut die gesamte spekulative Dialektik und ihre Inkohärenzen, ihre Reste zu erkunden, aufzulesen, was sie nicht aufheben kann.
Dabei treibt Glas sicherlich alle diejenigen in den Wahnsinn, die ein Buch mit Kapiteln, Einleitungen und Zusammenfassungen, ausgestellten Thesen und klaren Fronten brauchen. Das Buch beginnt im Satz (in der linken Kolumne), mit einem Zitat aus Genets Rembrandt-Essay (in der rechten Kolumne) und bricht genauso unvermittelt ab. Es bildet kein unendliches Buch, in dem sich Anfang und Ende, letzter und erster Satz zusammenfinden (wie etwa bei dem Roman Finnegans Wake von James Joyce). Es gibt viele Einsätze und noch mehr lose Enden. Glas, die Totenglocke, ist ohne Anfang und Ende. Sie läutet gleichzeitig in jedem Text; mit jeder Klassifikation, in jedem »gl« gleitet zwischen den Signifikanten das Geläut und spielt seine Spiele: »gl entreißt den ›Körper‹, das ›Geschlecht‹, die ›Stimme‹, die ›Schrift‹ der Logik des Bewußtseins und der Repräsentation, die die Debatten leitete«, in diesem Fall des Kratylos von Platon – ein Text mit glotta, glischron und glyky (Zunge, schleimig- und pechartig Klebrigem).
Wenn die drei im selben Jahr 1967 erschienen Bücher Grammatologie, Die Schrift und die Differenz und Die Stimme und das Phänomen begründeten, dass es kein Außerhalb des Textes gebe, dass die Stimme in ihrer fremden Materialität als Schrift nicht wieder angeeignet werden könne und der Aufschub des Sinns endlos bleibe – dann erinnert Glas daran, dass es sich hier um durch und durch politische Fragen handelt. Es geht um das Geschlecht, und ohne Zögern lässt sich sagen, dass Glas beste feministische Philosophie ist. Auch die queer theory kann sich der Schwarte verdanken. Denn die Frage nach dem Geschlecht ist immer eine rhetorische, es geht um die Sprache und die Differenzen und Klassifikationen, die sie herstellt. Um dies zu zeigen, stellt Glas dem Hegel’schen Phallo(go)zentrismus die Blumen Jean Genets gegenüber, die in seiner Lektüre wirklich wundersame Blüten treiben. Falsch. Sie werden nicht gegenübergestellt, es ist gerade kein Widerspruch, der sich aufheben lässt. »Wenn der Gegensatz die Differenz aufhebt, ist er, die Begrifflichkeit selbst, homosexuell.«
Die Säulen, die Seite für Seite, knapp 300 Mal nebeneinander aufgerichtet sind, werden von Jacques Derrida wieder und wieder genüsslich mit allen möglichen und unmöglichen phallischen Metaphern umschrieben und verbalisiert – um die phallische Logik selbst ebenso genüsslich zu zersetzen. Die Differenz zwischen Hegel und Genet bleibt unaufhebbar – und zugleich kann man sich bei der Lektüre der so sauber getrennten und sich niemals überschneidenden Kolumnen des Eindrucks nicht erwehren, Hegels Philosophie der Religion sei der Versuch, das Christentum vor seiner Zersetzung durch Genets Romane zu bewahren. Darin zeigt sich der große Humor dekonstruktiver Philosophie. Ihr ist wirklich nichts heilig. Wo Hegel in der Reihenfolge der Religionen – damit auch in der Entstehung seines Begriffs der Geschichte selbst – der Blumenreligion ihren Platz zwischen dem Holokaust der Lichtreligion und dem Krieg der Tierreligion zuweist, wuchern die Blumenbilder Genets tropisch. Der Autor wird nur ein wenig anders akzentuiert, schon sehen wir uns im Ginster (genêt). Derrida liest die blumige Sprache Genets mit botanischen Büchern gegen und zerstreut die philosophische Zentriertheit um den Phallus durch seine vielfältigen Anthesen (die Zeiten vom Aufbrechen einer Blüte bis zum Verblühen), die sorgfältig vermeiden, zu Antithesen zu werden.
Es wäre deshalb falsch, Glas auf einen Strauß von Thesen oder Themen zu reduzieren. Aus der historischen Distanz lässt sich allerdings erkennen, wie der Philosoph nach dem Scheitern des wilden französischen Generalstreiks 1968 versucht, systematisch eine andere revolutionäre Perspektive zu entwickeln, als dies der Marxismus und die Kommunistischen Parteien taten. Dabei geht es weniger um eine Auswertung der Niederlage in historischer Hinsicht, als um das Bereitstellen eines Denkens und Schreibens, das den Anspruch herrschender Deutungsmuster gesellschaftlicher Situationen in Frage stellt.
Glas – Totenglocke im Französischen – wird in einem langen Zitat aus dem französischen Wörterbuch Littré kaum zufällig nicht nur auf den classicus, den Bürger erster Klasse im antiken Rom, den non proletarius also, sondern auch auf die classe zurückgeführt, in die Tiere und Pflanzen mit lateinischen Namen klassifiziert werden. Der etymologische Exkurs unterbricht die Kolumne über Genets Notre-Dame-des-Fleurs an folgender Stelle: »Ist nicht alle Arbeit eine Trauerarbeit? Und gleichzeitig eine Arbeit der Aneignung des mehr oder weniger großen Verlusts, eine klassische Operation? Eine gewaltsame Klassenoperation und eine Klassifikationsoperation? Eine Enthauptung dessen, was das Singuläre bei sich selbst hält? Diese Trauerarbeit heißt glas. Sie ist immer noch mit dem Eigennamen verbunden. Glas ist zunächst einmal ein Trompetensignal, das dazu bestimmt ist, eine Klasse des römischen Volkes aufzurufen, herbeizurufen, als solche zu versammeln. Es gibt also glas in der klassischen Literatur, aber auch im Klassenkampf: Klasse« – hier nun folgt der 13seitige Einschub, der im übrigen auch Ferdinand de Saussures Diskussion lautmalerischer Worte wie glas dekonstruiert, um wieder einzusetzen: »gegen Klasse, Totengeläut der Klassen, eben hier, hier und jetzt.«
Klasse gegen Klasse stellt sich die Frage, wie andere Produktionen als die des Mehrwerts aussehen können; wie sich die Logik des Eigentums, immer auch mit dem Eigennamen verbunden, durchkreuzen lässt; wie das Singuläre nicht – und sei es in der Aufhebung – vernichtet werden kann, sondern als ein Rest bleibt, der sich aller Klassifikation entzieht. Derrida gibt darauf keine einfachen Antworten. Wie auch? Die Worte selbst bilden Klassen und verraten sie ständig wieder. Dies führt Derrida vor – und wer hier selbstverliebtes, selbstreferenzielles Spiel wittert, vergisst, dass zwei Kolumnen sich gegenüber stehen, Kolumne gegen Kolumne. Es geht sehr wohl darum, eine andere Ethik, eine andere Logik, eine andere Ökonomie zu entwickeln, die sich aber – und das ist entscheidend in der Ökonomie der Unentscheidbarkeit – nicht als andere klassifizieren lässt. Die politischen Konsequenzen dieser Arbeit sind noch längst nicht gezogen.
Glas ist sicherlich mit den im selben Zeitraum erarbeiteten Büchern Überwachen und Strafen von Michel Foucault und Kapitalismus und Schizophrenie I von Gilles Deleuze und Felix Guattari zu lesen. Foucaults Analyse der Transformation des Wissens vom klassischen Zeitalter in die genetischen Klassifikationen des Bürgertums informiert Derrida merklich. Und wer lange genug die beiden Säulen von Glas im Wechsel liest, wird zwischen den Logiken gespalten. Alle drei Arbeiten eint der Versuch, sich der Totalität dialektischen Denkens zu entwinden.
Während aber Foucaults und Deleuze /Guattaris Studien zeitnah bei Suhrkamp ins Deutsche übersetzt wurden, war die Bedrohung des Totengeläuts offensichtlich so groß, dass des Französischen unkundige Leser sich bis heute gedulden mussten. Die Übersetzung von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek ist verdienstvoll, bemüht sie sich doch, möglichst zahlreiche Vieldeutigkeiten zu retten. Oft genug aber versagt ihnen das Deutsche den Dienst – Tombe, reste ermöglicht vier Übertragungen, die im Kontext alle richtig sind: Grab, bleibt. Fällt, bleibt. Grab, Rest. Fällt, Rest. Neben solchen Verdoppelungen gibt es noch die Homophonien, die nur im lauten Lesen hörbar werden, in der Dekonstruktion des präsenten Sprechens aber gerade die Logik der Performativität begründen – wie bei l’aigle. Um bei zwei Beispielen zu bleiben. Die Anmerkungen der Übersetzer helfen, manches Sprachspiel nachzuvollziehen – sie haben bewusst darauf verzichtet, den Text zu erläutern. Dies bleibt nun der – in Deutschland bisher kaum vorhandenen – Rezeption überlassen. Im englischsprachigen Raum gibt es nicht nur einige Monographien – unter anderem Geoffrey Hartmans Saving the Text – sondern auch das Glassary des Übersetzers John P. Leavey, in dem der größte Teil der Zitate nachgewiesen ist. Denn in Glas selbst gibt es keine Fußnoten, aber zahlreiche Hinweise, wo sich die zitierten Texte auffinden lassen – eine Aufforderung, die zitierten Texte unabhängig vom Zitat noch einmal zu lesen, und Derridas Schnitte und Säume genauer zu sehen.
Der Textkörper von Glas ist dafür nicht nur zwei Stränge geteilt, sondern auch immer wieder von weiteren Zitaten – wie aus dem Littré – zerrissen. In den Zwischenräumen bleiben die Verhältnisse zwischen den Texten herzustellen, die der Autor nicht erläutert. Wer wäre er auch? Nicht selten vervielfältigen sich die Kolumnen jeweils, werden durch weitere Spalten kommentiert. Glas erinnert aufgrund dieser Aufspaltungen, dieser mehrfachen Kommentare entfernt an den Talmud. Während dort aber der Text zentral steht und an den Rändern von Kommentaren begleitet wird, ist in Glas die Textsäule gespalten und zerteilt sich weiter. Nichtsdestotrotz fällt diese Referenz – in Hegels Diskussion der jüdischen Religion erinnert – eine Aussage. Glas schreibt jüdische Philosphie, die sich nicht als jüdisch klassifizieren lässt, aber den christlichen Philosophen dennoch oder gerade deshalb als solche erscheinen wird. Es ist eine Philosophie des Textes, die sich nicht durch den Bezug auf einen Vater oder einen Sohn rechtfertigt.
Es wundert nicht, dass Jacques Derrida in Deutschland so vehement wie kein anderer französischer Philosoph bis heute abgelehnt wird. Gerade bei linken Theoretikern ist immer wieder blanker Hass spürbar, wenn sein Name im Gespräch fällt. Ihr Puritanismus ist mit der fröhlichen Frivolität der Totenglocke kaum vereinbar. Ein Grund mehr, Glas zu hören.
Jacques Derrida, Glas
Fink Verlag, 2005
320 Seiten, 49,95 Euro