Dieses zweite Leben tut mir nicht gut
Dieses zweite Leben tut mir nicht gut. Schon nach dem dritten Besuch bekomme ich interne Seelenschwierigkeiten, sie äußerten sich in einem Tag regiert von Verstörtheit. Gestern traf ELAY eine Frau. Er war wieder in derselben Einöde unterwegs, offenbar blieb er dort einfach stehen für 24 Stunden. Zuerst editierte ich ihn noch eine Spur unförmiger. Dann flog ich umher und sah jemanden vor einem Haus stehen.
Als ich näher kam, sah ich, dass sie nackt war. Ich begann einen Chat: »gestern war ich auch nackt!« Sie: »lol, das passiert«. Im Gespräch bekam ich heraus, dass sie aus England kommt und »lol« »laughing out loud« bedeutet. Kurze Zeit später hatte sie etwas Weißes an.
Ich fragte, wo man denn einen Rollstuhl bekommen könne. Sie meinte, man muss ihn kaufen oder selber herstellen - warum ich das denn wolle. Ich sagte, dieses Herumstehen würde mich langweilen. Sie erklärte mir, dass ich mich mit der rechten Maustaste setzen könne. Ich bin Macuser und hatte gerade keine zur Hand.
Ich wolle meine Freiheit hier nutzen um auf einem Brett mit vier Rollen zu sitzen und zu betteln. Menschen in SL fänden das »odd« meinte sie, warum ich denn das wolle. Ich antwortete: »freedom is free«. Sie konterte (zynisch, ironisch oder nativ-speaker-like): »very deep«. Ja, die gute alte deutsche Seelentiefe. Dann meinte sie, sie habe etwas für mich. Ich wurde vom Programm gefragt, ob ich »Choco«, ein Objekt vom Gegenüber annehmen wolle. Ich wollte und bekam es in mein Inventar kopiert. Sie erklärte mir, wie man es benutzt: man muss das Objekt aus dem Inventar auf den Avatar ziehen. Mein erster Versuch endete damit, dass ich Choco als rechte Hand hatte, sah lustig aus. Choco ist etwa doppelt so groß wie ich.
Dann ritt ich diesen Fantasievogel. Auf Vögeln sitzend setzten wir unser Gespräch fort.
Sie fand es in SL auch eher langweilig. Es passiert wenig und selten trifft man auf andere Avatare. Wir plänkelten unser Gespräch aus und flogen von dannen.
Heute hatte ich das seltsame Gefühl, Tina mit diesem Gespräch hintergangen zu haben. Es fand alleine auf einer Berghütte statt. Ich fühlte mich wie früher, als ich hinter solchen Gesprächen mal weichere, mal handfestere Absichten hatte. Eine leichte Flirtaura umgab in der Verklärung unser Gespräch. Sie sah natürlich »gut« aus und ich schaute ihr auf den Busen, merkt ja keine. Sie drückte sich gewitzt aus, hatte freundliches Interesse an dem Gespräch. Sind doch alles klasse Bedingungen für das Beginnen von irgendeinem »Etwas«. So gespürt kann ich nachempfinden, dass Jungs, die vor lauter Ballerspielen den Sinn für die Realität verlieren, einsam zur Waffe greifen. Diese Zweite Spielwelt bedient Erst-Lebens-Bedürfnisse und Sehnsüchte, vordergründig, hinterhältig - ohne Einlösung irgendeines Versprechens.
Kann man hier Sex haben? Meine Eier sind nur im Flug von hinten zu sehen. Vorne ist alles Barbie-Ken-glatt. Wie ich die Amis kenne, haben die Brüste keine Warzen. So genau hatte ich vorhin nicht hingesehen. Kann man die dann nachträglich kaufen? Oder sich selber malen?
Befindlichkeitsanhängsel:
Ich kann jetzt schwer Worte für den Grad der Verwirrung durch diese virtuellen Besuche finden, mir ist schon klar dass SL nicht »real« ist - doch vermischt sich der Aufenthalt in SL durch die ausgelösten Gefühle mit meiner Realrealität. Mein Projektionsmechanismus funktioniert ganz gut. Die Gefühle enden nicht mit dem Beenden des Programms. Wird man in Zukunft mit diesen Realitätsverwirrungen besser umgehen können? Was muss mein Kind lernen, damit es sich in virtuellen und analogen Welten zurechtfinden wird?