Schlechtes Wetter und schlechte Ausstellung
von Cornelia Sollfrank
Ich muss zugeben, die Vorstellung, im Bergpark des Schloßes Wilhelmshöhe mit einer bunten Menschenmenge, einer Melange aus neugierigen Kasselanern und dem Grand-Tour-Kunst-JetSet, die Eröffnungsparty der documenta12 zu feiern, hat mich gelockt. Keine VIP-Zone, keine Einlasskontrolle, nicht Lärm und stickige Luft, sondern in frischem Grün – mehr oder weniger zufällig – Freunde und Bekannte aus der ganzen Welt treffen und es sich gemeinsam auf dem Rasen gemütlich machen – was für eine schöne Vorstellung!
Leider kam es dann ganz anders, denn die Möglichkeit, dass es auch regnen könnte, war von den Veranstaltern absolut ausgeklammert worden. Also regnete es, und zwar in Strömen; trotzdem kamen – auch in Strömen – die Menschen auf die Anhöhe über der Stadt. Das »worst case scenario« ist eingetreten: sorgfältig durchdachte Outfits für das große Fest unerbittlich durchnässt, im Schlamm steckende Highheels, keine Möglichkeit, sich zu setzen, kaum eine Möglichkeit, nicht vollkommen nass zu werden: Survival anstatt Shmoozing.
Aber das (Kunst-)Volk war hartnäckig und harrte aus, wurde dann endlich auch begrüßt von dem künstlerischen Leiter, demjenigen, der es versäumt hatte, Vorsorge zu treffen. Seine Frau, in Manier einer Privatradio- frühmorgenmoderatorin künstlich gute Laune verbreitend, zeigte sich hocherfreut über das Meer der bunten Regenschirme und forderte Applaus ein, einen für den Chef, einen für das Team, noch einen für den Chef und noch einen für überhaupt. Vielleicht, weil es sich schwer klatschen lässt mit einem Regenschirm in der Hand, hielten sich die Begeisterungsbekundungen in Grenzen... Trotzdem alles super! Es macht ja so viel Spaß, hier zu sein! Eine jazzige Band fürs gemeine Volk (das Landes Jugend Jazz Orchester Hessen), eine Kunstszenen-gehypte für die Insider (die norwegische Rockband Kaizers Orchestra) für jeden was dabei, dampfende Open-Air-Festival-Stimmung und für alle gemeinsam ein großes Feuerwerk. Besichtigung internationaler Kunst am Rande: gleich unterhalb des Schlosses befinden sich die Reisterrassen des thailändischen Künstlers Sakarin Krue-On. Nach dem ich unlängst die zum Weltkulturerbe gehörenden Reisterrassen von Banaue auf den Philippinen besichtigt habe, die seit über 2000 Jahren ganze Gebrigszüge bedecken, erscheint mir das Feld unter dem Schloss etwas mickrig; aber schließlich soll es ja auch nur auf etwas nicht Anwesendes verweisen. Das war das.
Eröffnungsveranstaltung missglückt, und zwar total. Meine Kleingruppe gibt auf und wir ziehen uns – trotz Regenplane und sonstiger Wasser-abweisender Ausrüstung – in die aus allen Nähten platzende, aber immerhin größtenteils trockene Lolita-Bar zurück: stickig, eng, heiß und laut. Sitzen geht hier auch nicht, aber immerhin schwitzen anstatt frieren, endlose Schlangen an der Theke und stundenlanges Sich-anbrüllen. Erste leise Zweifel, ob der Entscheidung nach Kassel zu fahren, verflüchtigen sich aber sofort wieder, als ganz unerwartet ein lieber Freund auftaucht, dann noch einer und noch einer, und es – fast – noch eine Party wird.
Am nächsten Morgen gehen wir über zum ernsthaften Teil, schließlich geht es nicht um Spaß, wenn man Großausstellungen dieser Art besucht, sondern, auf jeden Fall schon mal um »Bildung«. Eines der »Leitmotive«, die er uns freundlicherweise gegeben hat zum Festhalten (denn wir können es ja schwer aushalten, nicht beider Hand genommen zu werden – soviel hat er uns verraten über uns selbst... und über ihn selbst, dass er es ist, der uns bilden wird. Danke schon mal dafür!).
Inhaltliches war nicht viel herauszubekommen vor der Eröffnung. Ganz traditionell hat auch Roger Buergel im Vorfeld versucht, seine Show durch Geheminiskrämerei mit Bedeutung aufzuladen. Der Leiter hatte sich größtenteils auf eine Geste der Verweigerung zurückgezogen. Anstatt Konzepten hatte man lediglich seine Auftritte studieren können, seine Sprache und Körpersprache. Wir sollten konfrontiert werden mit unseren (offensichtlich kalkulierbaren) Erwartungen, die er allesamt kannte, gut kannte, aber nicht im Traum daran dachte, zu erfüllen. Nein, es sollte kein Konzept geben, kein Statement, keine Position, keine Form – nur ihn und den direkt aus ihm erwachsenden Erfahrungsraum.
Immer noch ist alles möglich. Also machen wir uns hoffnungsvoll auf den Weg, die Ausstellung zu erkunden, uns der verordneten »ästhetischen Erfahrung« auszusetzen, bereit zu staunen, ins Grübeln zu kommen und uns selbst unseren Reim zu machen auf das, was wir sehen. Im Fridericianum ist es wahnsinnig voll, die Menschen drängen sich, kaum Luft zum Atmen – Flash-back in die Lolita-Bar – aber wir sind fest entschlossen und halten durch. Ich kann es gar nicht fassen, dass ich fast nur mit historischen Arbeiten konfrontiert bin. Zugegebenermaßen kenne ich viele davon nicht, ach ja, das „Abseitige“ sollte gefeiert werden, habe ich mal irgendwo aufgeschnappt, keine großen Namen, Graben nach unbekannten Künstlern. Sehr ehrenwert. Sind alle nicht schlecht und jetzt kommen sie, viele postum, noch zu documenta-Ehren. Ich notiere mir ein paar Namen, Künstlerinnen, die man sich nochmal in Ruhe angucken kann. Da laufe ich in eine Freundin aus Brüssel. Wir machen Kaffee-Pause und unterhalten uns über die gerade diskutierte Krise der Medienkunst und wundern uns zum ersten Mal an diesem Tag darüber, wie seltsam fern uns die Ausstellung vorkommt von den aktuell brennenden Fragen, mit denen sich die zeitgenössische Kunst gerade herumzuschlagen hat, ganz zu schweigen von aktuellen Technik- und Medienentwicklungen, die – wie wir seit 1936 (Walter Benjamin) wissen – durch die durch sie bewirkte Veränderung der Wahrnehmung zwangsläufig zu einer Veränderung der Kunst führen...
Zurück im Fridericianum gibt es dann – wie um meinen unausgesprochenen Vorwurf zu entkräften und unter Beweis zu stellen, dass auch die documenta schon beim Bewegtbild angekommen ist – doch noch eine medienkritische Installation: von Harun Farocki zur Fußball-WM und als weitere „zeitgenössiche, politische, feministische, Medien-Position“ wird an prominenter Stelle – oben in der Kuppel – das Video über Bondage von Hito Steyerl gescreent. Ich treffe einen bekannten Kunstvermittler aus Wien, der anmerkt, dass er es »etwas problematisch findet, von allen Konzepten wegzugehen. Was dabei herauskommt, könne man hier sehen... Vielleicht hat es aber doch was?« Dann denke, ich seh’ nicht richtig: Hier hängt der »Engel der Geschichte«, der »Angelus Novus« von Paul Klee, im großen Treppenhaus des Fridericianums sich verlierend. Dieses ist untrennbar mit Walter Benjamin verbunden, der das Bild nicht nur besessen hat, sondern für den es eine zentrale Rolle spielte, die sich teilweise auch in seinen Schriften niederschlug. Ich suche es im Ausstellungskatalog, wo es unter der Jahreszahl seiner Entstehung, 1920, und dem Ort »Schloss Wilhelmshöhe« verzeichnet ist. Zweiteres ist definitv falsch. Dann erfahre ich noch, dass es sich um eine »Ausstellungskopie« handelt, was unweigerlich weitere Benjamin-Assoziationen in Gang setzt. Was ist das für ein Verwirrspiel? Warum soll man diesen Engel übersehen, bzw. erst gar nicht finden? Ich werde das jetzt nicht interpretieren und nicht über die Rolle ausgerechnet dieses Bildes auf der und für die documenta nachdenken. Trotzdem geht es mir nicht aus dem Sinn. Der Sturm der Geschichte trägt den Engel unerbittlich weiter – in die Zukunft. Genau dieser Sturm fehlt hier in Kassel. Eigentlich war mir der Begriff »Eskapismus« im Hinblick auf die Ausstellung durch den Kopf gegangen.
Auf den informellen Hinweis hin, dass hier das Beste zu finden sei, begeben wir uns in die Neue Galerie. Auf dem Weg dorthin passieren wir die nicht vorhandenen Mohnfelder von Sanja Ivekovic. Man muss nicht lästern über die 10 Mohnfelder, auf denen nur Unkraut wächst. Es war auf jeden Fall ein gutes Konzept – und eine riskante Arbeit. Eine, die schief gehen konnte und die schief ging. Kein Mohn weit und breit. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit dem Scheitern umzugehen. Herr Buergel selbst schlägt vor, zwischen »produktivem« und »unproduktivem« Scheitern zu unterscheiden. In dem Fall scheint es sich um »unproduktives« zu handeln. Wieso ist die größte und angeblich wichtigste Ausstellung zeitgenössicher Kunst nicht in der Lage, mit so einem Problem umzugehen? Schließlich ist es ein Kunstwerk, ein großes und zentrales Werk der Ausstellung. Eine verpasste Chance, das nicht produktiv zu machen, und das Bild auf der documenta-Website (und übrigens auch im Katalog) von einem blühenden Mohnfeld, das offensichtlich von einer Bildagentur erworben wurde, die das gleiche Bild auch noch einer Pharmafirma zur Verfügung stellte, ist nur peinlich. Was sich vermittelt, ist dass der zustand der Arbeit nicht von Bedeutung ist; vielelicht die ganze Arbeit nicht? Die Buschtrommeln sagen, es hätte Krach gegeben zwischen der Künstlerin und der Leitung. Ivekovics Bilder im Fridericianum hängten auch falsch. Sie sei total genervt, heißt es. Aber auch von ihr gibt es kein Statement.
Ein paar Schritte weiter treffen wir auf das Denkmal von FriedrichII, der nun den ganzen Tag von einem globalisierungskritischen Karussel umrundet wird. »Die Exklusive« heißt diese Arbeit von Andreas Siekmann, die Bildmaterial zum Thema »Migration« sich im Kreis drehen lässt und dabei dem darüber stehenden historischen Herrscher wieder ein bisschen Aufmerksamkeit verleiht. Der staatlichen Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und Exekutive wird von Siekmann eine vierte hinzugefügt, die »Exklusive« eben, die MigrantInnen ausschließt und abschiebt. Das ist zwar nicht ganz logisch, denn das Ausschließende konstituiert und manifestiert sich sicherlich durch die anderen drei, aber grundsätzlich kann Siekmanns künstlerischer Ansatz, real-politische Missstände durch kindlich-naive Ästhetik zu thematisieren durchaus Charme besitzen. Ich mag das Karussell als Bild, aber die naive Computerästhetik der vorbei ziehenden Bilder und Figuren spricht mich bei dieser Arbeit nicht besonders an. Die Darstellung des im Kunstbetrieb der letzten Jahre ziemlich überstrapazierten Themas wirkt durch die Wahl der Bilder und Textfragmente klischeehaft, so dass sich durch diese Repräsentation beim besten Willen keine neuen Erkenntnisse und Erfahrungen einstellen. Und da ich als Betrachterin durch einen Maschendrahtzaun ausgegrenzt bin vom Mitfahren, ziehe ich von dannen, darüber grübelnd, wieviel von diesem Karussell nun neu gebaut und wieviel übernommen ist von dem oder den anderen, die zum Beispiel schon in Dresden und in Brüssel waren. Migriert die Arbeit oder das Konzept bzw. die Form? Dass sie auch schon mal in Teilen in der Galerie des Künstlers ausgestellt war, hat ihrer Glaubwürdigkeit auch nicht gut getan. Eine vorbeiziehende Nörglergruppe merkt an, dass der Künstler nie auf einem Grenzcamp gewesen sei und sich das Thema angeeignet habe für sein repräsentatives Großprojekt, ohne jemals politische Basisarbeit gemacht zu haben. Das ist nicht mein Kriterium an ein glaubwürdiges politisches Kunstwerk. Dass es eine der ganz wenigen Arbeiten im öffentlichen Raum ist, wird mir erst später klar.
Vor dem von dem Berliner Kollektiv b_books und der ebenfalls in Berlin ansässigen Buchhandlung pro qm, die nun zusammen und anstatt der alt-ehrwürdigen Kunstbuchhandlung Walter König, den documenta-Buchladen betreiben dürfen, treffe ich zufälllig eine Freundin und Kollegin aus Oslo, und wir verabreden uns zum Abendessen. In der Neuen Galerie angekommen, finden wir wieder ein klassisch museales Setting vor. Dunkle Räume, dunkle Farben, weihevolle Inszenierungen, wieder sehr viel Historisches, wieder viele wenig bekannte frühe feminisitische Positionen, wieder ein paar österreichische Freunde und wieder ein paar junge, kritisch-politische Positionen. Eine davon ist Andrea Geyer, die in einem langen Flur ihre schöne, aber sehr textlastige Recherche-Arbeit zu nordamerikanischen Indianern vorstellt. Man kann sich ein Textheft mitnehmen, was sehr sinnvoll ist, in dem aber leider die angegebenen 124 Fußnoten gänzlich fehlen. Im absolut dunklen und mit einer großen Glasscheibe vom Flur getrennten Videoinstallation von James Coleman rezitiert Harvey Keitel in einer atemberaubend perfekten Inszenierung die Apokalyse des Johannes. Das ist mehr als theatral, es ist sakral und lässt alles um einen herum vergessen. Nicht zuletzt auch, weil diese eine Arbeit vergleichsweise viel Platz einnimmt. Dann trifft mich wieder ein Juan Davilá! Langsam beginne ich eine Allergeie zu entwicklen gegen seine scheußliche Malerei, mit der die Besucher immer wieder, an verschiedensten Stellen der Ausstellung belästigt werden. Niemand kannte bisher diesen aus Chile nach Australien emigrierten Maler – und Abseitiges hin oder her – niemand muss ihn zukünftig kennen. Meine australische Begleiterin erzählt mir, dass er ein freundlicher, bescheidener älterter Herr sei, der sich vor langer Zeit aus Frustration vom Kunstbetrieb zurückgezogen habe. Tja. Sollte das eines der geheim gehaltenen Auswahlriterien dieser documenta sein? Wieder in der gleißenden Sonne, vor der Tür treffen wir einen befreundeten Museumsdirektor, der strahlt: »Schöne Inszenierung hier. Kannst du hinstellen, was du willst. Funktioniert immer!« Und weg ist er.
Das Personal der Gastronomie hat sich noch nicht an den Massenanstrum gewöhnt und ist total überfordert. Wir warten zu lange auf unser Essen. Am Nachbartisch wird gelästert über die Zusammensetzung der KünstlerInnen: 50% historisch, 25% politsch-korrekt und 25% Freunde der Familie Buergel. An einem anderen Tisch bewundert jemand unermüdlich die Schaukästen der neuen Galerie. WIE perfekt die gemacht seien, so etwas Professionelles würde man selten sehen. Bestes Material, fehlerlos gearbeitet, das kostet. Wir sind gespannt auf den Pavillon in der Karlsaue. Neue Räume, neues Kuratorenglück!?
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Die Architektur des Pavillions macht einen erst einmal platt. Es ist ziemlich unglaublich wie diese wirklich hässliche Halle da mitten im Park auf die Wiese geklotzt wurde und wie sie den ganzen Park verschandelt. Da hilft auch keine Selbstironie mehr, mit der Bürgel, die Halle mit einem Gartencenter vergleichend, versuchte, die mangelnde Durchdachtheit zu vertuschen. Die ganz schlimmen Anbauten hinter der Halle, die durch die Klimaanlage notwendig wurden, sind mit Goldfolie verkleidet. Man könnte es Pfusch nennen, aber irgendwie passt es einfach auch zum kleinbürgerlichen Größenwahn, dem diese unnötige Halle geschuldet ist. Im Außenbereich keine Kunstwerke in Sicht, von den langen Terrassen der Orangerie und ihren Cafés kann man sich einzig am Formwillen des künstlerischen Direktors selbst erfreuen. Nein, stimmt nicht! In einer Nische stapeln sich die 1001 Türen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, etwas eingequetscht. Vom Inneren der Halle wirkt die Skulptur besser als von außen.
Auch Ai Weiwei gehört zu den Künstlern der documenta, die immer wieder auftauchen, an verschiedensten Orten der Ausstellung. Seine 1001 – angeblich alten, aber natürlich gefälschten – chinesischen Stühle stehen überall herum und laden zu einem Päuschen ein. Das ist sehr angenehm. Teilweise sind sie auch zu kleinen Inseln arrangiert, die von der Kunstvermittlung genutzt werden, um mit dem Publikum zu diskutieren. Leider habe ich zuvor im Internet Ruth Noack auf einer Pressekonferenz in Tokyo sagen hören, die Stühle könnten von Besuchern genutzt werden, um auf ihnen pausierend über ihre Frustrationen – ich schätzemal im Hinblick auf die Ausstellung – zu sprechen. Diese anmaßende Antizipation meiner inzwischen tatsächlich eintretenden Frustration verleidet mir diese Möglichkeit, mich einfach mal in Ruhe hinsetzen zu können... Und zum Reden habe ich auch bald keine Lust. Also weiter.
Auf die von Ai Weiwei antransportierten 1001 Landsleute – eine soziale Skulptur, die fotografierend und filmend durch Kassel zieht – trifft man zwar immer wieder, doch leider weniger massiv als das Konzept es erfordern würde. Trotzdem mag ich Ai Weiwei. Mit der Großkotzigkeit und Aufdringlichkeit seiner Arbeiten sowie seinem Humor und der schier unerschöpflichen Energie, die er versprüht, ist er so etwas wie ein proto-typischer Großausstellungskünstler. Bei genauerer Betrachtung hat meine Begeisterung für ihn aber etwas Nostalgisches, denn sein künstlerischer Gestus erinnert nicht wenig an die Fluxus- und Aktionskünstler der 1960er und 1970er Jahre. Egal, er bringt ein bisschen Leben in die Bude und das ist gut.
Wir betreten den Pavillion, der überraschend angenehm klimatisiert ist und Ruhe ausstrahlt; es ist ein schöner Innenraum geworden, aber er ist nicht, wie erwartet, lichtdurchflutet, sondern die vielen hundert Meter Vorhänge an den Wändern entlang sorgen für ziemlich dusteres Mischlicht. Zu sehen gibt es Installationen, Malerei, Zeichnung, Fotografie, wenige Videos, nichts flimmert oder rauscht. Man schlendert so dahin, das Auge bleibt nirgends lange hängen. Der riesige Raum wirkt merkwürdig leer, bestückt mit Gemischtwaren. Offensichtlich hatte Buergel keine gute Idee, wie er mit den von ihm unter riesigem Aufwand neu erstellten Räumen umgehen sollte. Der Versuch, das Problem durch Selbstironie zu retten, indem er von einer »Kunstmessen-Situation« spricht, hilft da auch nicht weiter und brachte ihm lediglich den spöttischen Vergleich mit einer »bulgarischen Messe« ein. Es ist unangenehm, auf dem Asphaltboden zu laufen, die Füße schmerzen und Ai Weiweis Stühle kommen mal wieder gerade recht. Komponierte Töne sind in einiger Entfernung auszumachen. Es handelt sich dabei um die Soundinstallation von Saadane Afif, die ich hiermit zum schlechtesten Kunstwerke der documenta erkläre. Es handelt sich dabei um eine vollkommen banale Übertragung einer konzeptullen Arbeit von André Cadere. Dieser schmuggelte in den 1970er Jahren in die Ausstellungen anderer Künstlerkollegen wie z.B. Joseph Beuys oder Marcel Broodthaers lange Stäbe, die er mit systematisch angeordneten Farbringen ausgestattet hatte. Das System dieser Farbringe setzt Afif nun in Akkorde um, die automatisiert von schwarzen Gitarren abwechselnd angeschlagen werden. Für kurze Zeit ist es zwar angenehm, sich von all den vielen zweidimensionalen Wandarbeiten mal ablösen und durch den Sound in den Raum entführen zu lassen, doch die Arbeit kann einen nicht halten; im empfinde die Musik sehr schnell als stumpfsinnig. Gleich im Anschluss und kurz bevor es sich zum Ausgang hin wieder verläuft, gibt es dann doch noch eine schöne räumliche Verdichtung. Bei der Videoinstallation von Dias & Riedweg – die eine andere ist, als im Katalog beschrieben – entstehen im Zusammenspiel mit den Bildern von Poul Gernes einige ästhetisch interessante Durchblicke. Sofort frag ich mich wieder, warum es nicht mehr raffinierte und die Eigenheiten des Mediums angemessene Videoinstallationen gibt. Ich schnappe noch eine frische Brise bei dem eher konventionell-linearen Doku-Fiction-Segel-Video von Johanna Billing und werde zum Hinterausgang wieder hinausgeschoben in die Aue. Der gesamte Parcours durch den Pavillion ist One way, vorne rein, hinten raus. Wie bei IKEA. Auf der Suche nach meiner Freundin begegnet mir eine gute Bekannte, Professorin für Kunstgeschichte, die sich sehr angetan zeigt, von dem, was sie bisher gesehen hat. Unsere Einschätzungen der Ausstellung gehen deutlich auseinander. Verschiedene Zielgruppen, unterschiedliche Bedürfnisse und Geschmäcker. Angeblich gibt es hier für alle was. Jedenfalls findet die Ausstellung Zuspruch bei dieser Akademikerin vom Fach, für die das Kombinieren von alt und neu in der hier vorgeführten Weise schon eine gewagte Grenzüberschreitung ist, die für sie neue Denkräume öffnet. Ich freue mich trotzdem sie getroffen zu haben.
Die Nebenschauplätze wie das Kulturzentrum im Schlachthof hebe ich mir auf für meinen nächsten Besuch in Kassel und eile noch zur documenta-Halle, wieder bergan. Warum auch immer, ist das der Ausstellungsort, den ich am meisten mit documenta verbinde, mehr als das viel traditionsreichere Fridericianum und sogar mehr als die Orangerie, in der ich selbst auf der documenta 1997 für 10 Tage zu Gast war im Hybrid Workspace. In der documenta-Halle liegt die Seele der Ausstellung. Wenn man hier ist, ist man angekommen. Der obere Bereich der Halle wird dominiert vom Zeitschriften-Projekt. Hier liegen sie, die vielen, vielen Kunstzeitschriften, die Georg Schöllhammer ausgewählt hat. Warum es hier keine aktuellen Ausgaben dieser Zeitschriften gibt, bleibt mir ein Rätsel. Und dass sie hier zwar auf Tischen liegen, aber darauf auch festgeklebt sind, ist ebenso komisch. Sicher ist es eine Herausforderung, eine gute Lösung zu finden für so einen Bereich, aber in Anbetracht des Stellenwerts, den dieser innerhalb der gesamten documenta hat bzw. haben sollte, erscheint die Präsentation hier etwas lieblos. Es stellt sich langsam das Gefühl bei mir ein, dass die ganze documenta12 ein Schlag ins Wasser ist, eine Ausstellung, die zwar viele gute Werke versammelt hat, aber nicht die Kunst, die man hier sehen müsste. Einzig in dem Magazin-Projekt meine ich einen Hauch dieses Geistes zu verspüren, den ich ansonsten vermisse. Die Fortsetzung meines Rundgangs bestätigt mich weitgehend in meinem Urteil. Zentral in der großen Halle, vor einem über 200 Jahre alten, iranischen Gartenteppich, die Installation von Cosima von Bonin. Somit hat der angeblich ignorierte Kunstmarkt doch noch mit Pauken und Trompeten Einzug gehalten. Davon kann auch die arme, dem Nahost-Konflikt erlegene, ausgestopfte Giraffe, die Peter Friedl aufstellen ließ nicht alenken, ebenso wenig wie der »Phantom Truck« von Inigo Manglano-Ovalle. Diese, ganz im Dunkeln, trotz seines Ausmaßes leicht zu übersehende Arbeit gehört sicherlich zu den besten der ganzen Austellung. Es handelt sich dabei um die Nachbildung eines irakischen, mobilen Labors, in dem biologische und chemische Waffen hergestellt werden können. Die gefälschten Beweise übder die Existenz derartiger Labore dienten den USA als Begründung ihres Militärschlags. Zeit für meine Abendessen-Verabredung: Am Tisch der skandinavischen KünstlerInnen und KunstvermittlerInnen freut man sich darüber, dass die Ausstellung – auch aufgrund der nicht-vorhandenen Vidoearbeiten – doch sehr leicht zu bewältigen war. Gleichzeitig wird klar, dass die leichte Konsumierbarkeit genau das Problem sein könnte...
Kultur-macht-politisch ist das Label documenta sicherlich immer noch das Epizentrum des gesamten Systems, was sich durch diese Ausgabe aber einmal mehr als überkommene Tradition erwiesen haben dürfte. Ohne ordnenden Geist, der in der Lage ist, die Kunst selbst, in ihrer Zeit und ihre Funktion in einer globalisierten Welt zu befragen, wird so eine Ausstellung eigentlich überflüssig bzw. erfüllt keine andere Aufgabe, als Touristenmassen zu mobilisieren. Das allerdings vermag inzwischen jede documenta zu leisten – unabhängig von der Qualität des Dargebotenen. Am meisten enttäuscht hat mich die Erkenntnis, dass selbst die proklamierte Verweigerung dem Kunstmarkt gegenüber nur eine hohle Phrase war. Die deutschen Malerjungs nicht zu featuren ist eine Sache, keine Alternative zu ihnen zu haben allerdings ist tödlich.
»Herr Buergel, was haben Sie empfunden, als Sie erfahren haben, dass Sie documenta-Leiter werden?«
»Nichts. Ich habe mich einfach leer gefühlt.«
(R.B. bei einem Interview für eine Norwegische Radiostation, am 16.6.2007)
Liebe Cornelia_hab grade Deinen Documentabericht gelesen und Teile viele Deiner Ansichten.
Meine endrücklichste Erfahrung war, wie angenhem es ist, sein könnte, mal nicht in noch einer weiteren der gängigen “Zuchtbullenschauen” zu sein. Man schaut viel entspannter und aufmerksamer. Eigentlich.
Das Mohnfeld hat dann doch noch geblüht. Als ich vorige Woche dort war, kam doch ein ganz veritables Rot daher.
Das hätte man nach der Eröffnung ohne rotes Mohnfeld gut zum Thema machen können, daß es halt doch noch mal andere Gesetzmäßigkeiten gibt, denen die ganze Kunst egal ist...
Und außerdem hatte mindestens e i n e rechtzeitig geblüht, wie ich auf dem Beweisfoto eienr Kollegin sehen konnte.
Wenn das keine Aussage ist!
Liebe Cornelia, mich trifft der Schlag!
»Angelus Novus« , der »Engel der Geschichte«, ich wurde richtig aufgeregt beim weiter lesen. Du kennst den Engel des Fortschritts!! 1990 habe ich meinen Engel aus Haselnussruten und Plakatwandabrissen gebaut. Er ist KEINE Sculptur; er zitiert Walter Benjamin und laesst den Wind durch sich hindurch.
Es ist allem Anschein nach unendlich gefaehrlich fuer das eigene Image, Stellung zu beziehen (auch und gerade im Kunstbetrieb, der ja wohl immer noch von dem Superbegriff ,Innovation, gepraegt ist ??)
Was waere gewesen, wenn B. »Angelus Novus« als Plakatgestaltung gewaehlt haette.
Mit der Ausstellungskopie im großen Treppenhaus des Fridericianums haelt Herr Buergel sich jegliche Interpretation offen.
Doku 12: Zukunftsweisend oder Treppenhauswitz.
mfg angela preusz
aufzeichnungen zur documenta 12
es ist ein sonntag anfang september, nachmittags und das plateau in der innenstadt von kassel ist von einem grauen himmel überwölbt, das licht gleichmässig und die aussentemperatur moderat. die ausstellungen sind gut besucht, man könnte sagen es ist voll, aber nicht nicht gedrängt. nachdem ich bisher nur schlechtes bis verheerendes über die veranstaltung gehört und gelesen hatte, sind meine erwartungen nicht besonders hoch, und in dieser haltung mache ich mich auf, die verschiedenen orte zu absolvieren. zu beginn nehme ich die arbeit von harun farocki zur kenntnis, die in der halbrotunde des erdgeschosses des fridericianums zu sehen ist. in einer reihe von monitoren sind verschiedenste perspektiven auf ein fussballspiel der wm2006 in deutschland dokumentiert, und dessen gleichzeitge mediale analyse und aufbereitung. alle sitzplätze sind belegt, aber ich habe nicht das gefühl etwas zu verpassen indem ich langsam den halbkreis abschreite und mit dem letzten monitor, der die aufzeichnungen einer überwachungskamera irgendwo im inneren der zuschauertribünen des stadions zeigt, bin ich schon an der schwelle zum nächsten raum. dieses tempo behalte ich größtenteils bei, nur unterbrochen von standortbestimmungen mittels des kleinen faltblatts, welches wir mit der eintrittskarte gereicht bekommen haben, auf welchen auffälligerweise die pläne der raumbelegung mit den namen der künstlerInnen verzeichnet sind, allerdings in den räumen selbst die verschlüsselungen nirgends auftauchen, so dass man immer wieder veranlasst ist, sich im gebäude zu verorten, da die legenden im raum, die autorschaft, jahreszahl, titel und materialien anzeigen, nicht besonders augenfällig angebracht sind.
ein weiterer zettel, den ich mitführe, enthält eine liste, die eine bekannte zusammengestellt hat, in der 11 künstlerInnen stehen, deren arbeiten für sehenswert befunden wurden, und eine 12. eintragung, vor der gewarnt wird. diese beiden zettel sind also meine navigationshilfen durch die ausstellung.
zu meinen ersten längeren aufenthalten gehört die reproduktion eines flugblattes von juan pablo renzi, der im komplex tucumán arde in einer knitterigen klarsichthülle auf einem tisch liegend ausgestellt ist und ein statement zum künstlerischen aktivismus und eine positionierung zur konzeptkunst enthält, in dem diese als eine von künstlerinnen angeeignete form aus der visuellen kommunikation politischer inhalte kritisiert wird, und in den kontext der reinen kunstpraxis überführt, schliesslich als entleertes zeichen verbleibe. mein begleiter regt sich ein bisschen darüber auf, dass ausgerechnet die aktivisten aus rosario und buenos aires, die sich gegen eine beteilung am ausstellungssystem immer verwehrt hatten, hier im kanon der documenta auftauchen. ich komme allerdings im nachhinein zum schluss, diese setzung als beleg für die richtigkeit der von renzi geäußerten kritik zu begreifen, denn die aneigung, oder beschönigend der transfer politischer (alltags)praxen in das notationssystem der ausstellungskunst, ist tatsächlich eine der schleifen, in der die aktuelle debatte um politische kunst nachhaltig und überaus selbstrefentiell verkapselt scheint. und hier meine ich denn letztlich auch eine positionierung der documenta-kuratorInnen zu erkennen, denn der fast aussschliessliche verzicht auf eine anhäufung aktuell erfolgreicher positionen aus dem reigen der europäischen polit-kunst-aktivistInnen zugunsten einer international recht breitgefächerten zurschaustellung von beispielen aus dem letzten viertel des vergangenen jahrhunderts, von jiri kovanda, archivo tucumán arde, von nasreen mohamedi bis alina szapocznikowi, von mladen stilinovic bis zofia kulik wird von mir durchaus als verweis auf die bedeutung der kleinen geste, auf die politisierung des (eigenen) alltags, auf die problematisierung von lebensumständen verstanden, die ohne ihren jeweiligen kontext genauer kennen zu müssen, oft schon aufgrund ihrer materialität historisch gelesen werden und somit der zeit der 60 und 70er jahre eine besondere bedeutung zuweisen.
eben diese geste als unterbrechung oder innehalten in einer erzählung internationaler kunstgeschichte ist es, die mich nach und nach im verlauf des besuchs der documenta12 zu interessieren beginnt, und mich der voreingenommenheit durch eingangs erwähnte verrisse entledigt. irgendwann im aue-pavillon kommt mir der gedanke in den kopf, dass die ausstellung sich explizit nicht an den geballten sachverstand der akteure des kunstzirkus richtet, die diesen umstand ja auch deutlich zur kenntnis genommen zu haben scheinen, sondern vielleicht tatsächlich einen weiter gefassten bildungsauftrag wahrnehmen will, in dem allein schon durch die auswahl der ausgestellten künstlerInnen so etwas wie eine gleich-dummheit eines großteils der besucherInnen hergestellt wird, denn viele der arbeiten und namen sind wahrscheinlich nicht nur mir bisher vollständig unbekannt gewesen, es fehlen die großen spektakel, die technologischen meisterstücke, der reigen der großen namen, die nur zu oft in den „wichtigen“ ausstellungen zu einer eher oberflächlichen abgleichung eines internationalen status quo führen, dem spezialisten ermöglichen sich zu distanzieren, und dem kunstlaien seine anschlussfähigkeit zuzugestehen. mir gefällt es, dass immer wieder materialsammlungen von künstlerInnen zu sehen sind, gleichsam der aufbewahrte zeitungsartikel als teil von bedeutung, als anstoß von weiterführendem interesse oder als teil eines gemäldes auftaucht, und überhaupt papier und stift, banale gegenstände, und immer wieder eine scheinbare beliebigkeit des ausgangspunktes zu einer vom künstler geführten auseinandersetzung im widerspruch zur präsentationsform zu stehen scheinen. die ausstellungsorte haben alle mehr oder weniger die atmosphäre, die man aus naturhistorischen museen kennen mag. die vorherrschende dunkelheit der räume initiiert eine etwas gedämpfte aber konzentrierte stimmung, und der großteil der besucherInnen scheint von dieser stimmung angesteckt. immer wieder tauchen bestimmte künstlerInnen auf, z.b. john mccrackens polymorphe körper, poul gernes monochrome studien, und ein plakat der performance von graciela carnevale, in deren verlauf die besucherInnen einer vernissage in einem glaskasten eingeschlossen werden und selbst zum objekt der ausstellung werden. diese ständigen „begleiter“ durch die ausstellungsorte rufen gleichsam immer wieder einen dreiklang von ästhetik, formalen verfahrensweisen und selbstreflektion ins gedächtnis, die ich geneigt bin, als geste der öffnung einer hermetischen verkapselung der kunst in sich selbst, als freundliche ironie oder auch einfach als integratives element zu verstehen, die einem in dieser im wortsinn ungewöhnlichen ausstellung ein gefühl des wiedererkennens gibt, dass genauso banal wie intelligent angebracht ist.
soweit dazu, die ausschnitthaftigkeit meiner schilderungen ist mir klar, und in erster linie ging es mir darum, das schlechte wetter, das kalte essen und den zu harten fussboden links liegen zu lassen und den/die geneigte/n leser/in wissen zu lassen, dass dirk von lowtzows text es geschafft hat, mir erstmalig sympathie für (diese eine arbeit von) cosima von bonin zu entlocken und alina szapocznikowi während sie ihren rolls royce aus rotem marmor polierte, glücklicherweise die eingabe hatte, dass sie mittels ihres kaugummis zum gleichen zeitpunkt ganz wunderbare kleine skulpturen verfertigte.