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12. November 2006

„Et la longue marche continue.“

von Ole Frahm

1. Motto

Wie ist eine Revolution ohne Avantgarde möglich? – Das ist die entscheidende Frage, die Lu Jie indirekt in seinen Ausführungen über das Long March Project stellt.

2. Anlass

The Long March Project aus Beijing war im Rahmen der Woche Transpositionen – China nicht verstehen zu Gast auf Kampnagel. Veit Sprenger und Matthias Anton hatten die Künstler Lu Jie und Qiu Zhijie zu einem Workshop eingeladen (www.kampnagel.de). Eine angenehme Gelegenheit, ein interessantes internationales Kunstprojekt kennenzulernen, das seinen Charme aus den lokalen Bezügen auf die chinesische Landbevölkerung ebenso gewinnt wie aus der Kritik an der aktuellen Kunst.

Wie lässt sich die chinesische Performance-Kunst in den Hamburger Kontext übersetzen? Schon im Titel der Veranstaltungsreihe deuten Anton und Sprenger an, dass bei dieser zweitägigen Stippvisite alle hermeneutischen Versuche zum Scheitern verurteilt sein würden. Deshalb wurde die performative Aneignung vorangetrieben. Damit setzte sich das Projekt auch sichtbar von den China-Wochen Hamburgs ab und suchte einige von deren repräsentativen Orten wie ein unwillkommener Widergänger heim.

3. Geschichtsschreibung

The Long March Project: Ein Kunstprojekt im Jahr 2002, ein Ausstellungsraum in Pekings Schanzenviertel, doch vor allem ein historisches Ereignis, das als Mythos für die Ideologie der kommunistischen Partei Chinas nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. In den großen Städten beim Industrieproletariat erfolglos, ziehen sich die Kader der kommunistischen Partei 1927 in die Berge zurück. Ein Genosse, der nicht in Europa studiert hat, gewinnt an Bedeutung, weil er ein revolutionäres Programm entwickeln kann, das an die historischen Bedingungen in China angepasst ist: Mao Tse-Tung erkennt, dass die chinesische Revolution über die Dörfer gehen muss. Doch bevor diese Revolution beginnt, muß die Rote Armee 1934 vor der weißen Armee Chian Kai-Sheks fliehen und wendet diese Flucht in einen vorläufigen Sieg: Sie beginnt die Revolution in den Dörfern.

Es wundert nicht, dass der lange Marsch bis heute große Faszination ausübt. Die Ausdauer, die Disziplin und Freundlichkeit dieser Armee, die versuchte, den Bauern den Kommunismus als Landreform zu bringen, die Griffigkeit der maoistischen Dialektik (Yu Gung kann Berge versetzen) und besonders die Guerilla-Taktik, die das Überleben des manchmal auch verlorenen Haufens sicherte und diesen immer wieder zur Avantgarde werden ließ, bietet zahlreiche Flächen für Projektionen an den Lagerfeuern der Jugend. Doch gerade deshalb ist große Vorsicht bei der historischen Interpretation geboten. Es ist klar, dass der lange Marsch nicht als langer Marsch begann. Es ist klar, dass die Rote Armee ohne Ziel oder von den Weißen getrieben durch die Gegend irrte. Die Toten sind nicht gezählt. Die Zwiste innerhalb der Partei verdrängt. Die Erfolgsgeschichte „Langer Marsch“ wurde von den Siegern geschrieben, die bis heute das große Land beherrschen. Um so bewundernswerter, dass The Long March Project sich dieser Projektionen angenommen hat und nicht weniger als eine Resignifikation des Staatsmythos vornimmt.

4. Kunstgeschichte

Lu Jie hat das Projekt, so sagt er, aus eigenen Mitteln drei Jahre vorbereitet. Zwanzig Stationen sollten es werden, zwanzig Orte auf der Route des langen Marsches. Jede Station hatte – passend zur historischen oder aktuellen Begebenheit des Ortes – ein Thema. Utopie, wo die erste Post der Roten Armee eingerichtet wurde, Feminismus, wo eines der letzten Matriarchate der Welt existiert. Internationale Künstler wurden mit lokalen Künstlern und einem ihnen fremden Kontext in einen Zusammenhang gebracht – Ingo Günther im ersten, Judy Chicago im zweiten Fall. Vor Ort waren Ausstellungen vorbereitet oder wurden kurzerhand mit den jeweiligen Behörden und Stellen verhandelt. Zwischen dem historischen Bezug der gegenwärtigen sozialen Situation und der Gegenwartskunst stellte sich eine komplexe, vielschichtige Arbeit her. Damit – und das ist nicht zu unterschätzen – wird das Long March Project selbst Teil der lokalen Geschichte. Der offiziellen Erinnerung wird eine weitere, ungefragte, aber mögliche hinzugefügt.

5. Ten Farewells to Avantgarde

Bei der zwölften Station gelangte das Projekt an die berühmte Luding-Brücke. Hier siegte die Rote Armee, nachdem sie ohne Unterbrechung marschiert war. Die Soldaten hielten einander an den Schultern, damit manche während des Gehens schlafen konnten. Eine kleine Avantgarde stürmte über die Reste der Brücke und opferte sich für die anderen auf.

Das Long March Project war schon zwei Monate unterwegs, als es an diese Brücke gelangte. Es gab Uneinigkeiten und eine gewisse Unzufriedenheit. So zumindest wird es erzählt. Und so beschlossen Lu Jie und seine Mitstreiter, das konkrete Long March Project abzubrechen. Nicht ohne eine letzte Aktion, deren Humor beeindrucken darf: Der wichtigste chinesische Performance-Künstler Wang Jianwei war gerade angekommen und plante eine sieben Kilometer lange Wanderung auf dem Weg der Roten Armee zu machen – und bei der Brücke zu enden, wo er eine Montage verschiedener Filme über den Langen Marsch zeigen wollte. Er sei, lächelt Lu Jie, ein sehr ernsthafter Künstler. Mit Qiu Zhijie überzeugte er Jianwei, dass eine solche Wanderung doch etwas langweilig wäre. Sie installierten zehn Stationen auf dem Weg des Künstlers, die wiederum die zehn bekanntesten Performances der chinesischen Avantgarde-Kunst der letzten zwanzig Jahre parodieren: Ten Farewells to Avantgarde. Der Titel zitiert den chinesischen Revolutions-Song Ten Farewells to the Red Army.

Die Parodie besteht in einer strengen Wiederholung, die gleichwohl an die lokalen Umstände angepasst wird. Der lokale Schlachter steht an dem Berghang mit zwei Kinderpuppen, eine auf der Brust, eine vor dem Geschlecht. Er schaut ausgesprochen ernst. Diese Ernsthaftigkeit ist unglaublich komisch, nicht weil sie den ungebildeten Dorf-Schlachter oder gar die Avantgarde-Performance bloßstellt – das wäre banal und als politische Taktik falsch, weil sie die jeweils gängigen Ressentiments verstärkt – sondern weil in der Wiederholung der Avantgarde-Anspruch bloßgestellt wird. In der Wiederholung wie in der Ernsthaftigkeit zeigt sich die Stärke des Schlachters wie der Performance. Es ist nicht Avantgarde, weil es sich noch im hintersten Land wiederholen lässt. Der originale Moment künstlerischer Performance ist nicht originär. Und der Schlachter ist kein Banause.

Abschied von der Avantgarde: Wie oft ist schon Abschied genommen worden. Und so erweist sich schon dieser Titel als guter Scherz, denn dieser Abschied sollte nicht nur zehn Mal, sondern ein weiteres Mal, weitere zehn Male in Hamburg genommen werden.

6. Kritik

Wie jedes gute Projekt ist das Long March Project aus einer Kritik entstanden: Den Leerformeln der chinesischen Avantgarde-Kunst, ihren hohlen historischen Bezügen. Den langen Marsch zu beginnen, hieß in diesem Sinne, die gesellschaftliche Funktion der Kunst selbst in Frage zu stellen und – auf einem langen Marsch – nach einer neuen zu suchen. In den 70ern sei, so Lu Jie, chinesische Kunst Avantgarde, in den 80ern Underground und in den 90ern marktförmig gewesen – aus dem sozialen Prozess der Kunstproduktion wurde ein internationales Aushängeschild nationaler Kunst: ein politischer Exotismus. Long March bedeutet in diesem Kontext unweigerlich Repolitisierung der Kunst. Es kann keinen unpolitischen Bezug auf den langen Marsch geben. Er ist politisch übercodiert.

Es handelt sich hier um keinen langen Marsch durch die Institutionen, wie er Anfang der 70er Jahre von Rudi Dutschke als revolutionäre Perspektive formuliert wurde. Vielmehr geht es um eine ständige Intervention, die nirgendwo ankommen will (außer vielleicht auf dem Kunstmarkt: der Künstler weiß, wie Werte entstehen und nennt, kommt das Gespräch auf Bilder, ihren Verkaufswert bei der letzten Auktion - und der Long-March-Space im ehemaligen Pekinger Fabrikareal Dashanzi 798 hat sich seit 2002 von 200 auf über 2500 Quadratmeter vergrößert).

Es ist kein Zufall, dass Lu Jie immer wieder betont, wie wichtig der Kontakt mit den ‚locals’, den Dorfbewohnern und Proletariern ist. Ihnen die aktuelle internationale Kunst in die Dörfer zu bringen – und zugleich in einem anderen Projekt die dörflichen Praktiken in den internationalen Kunstdiskurs einzuspeisen – impliziert ein politisches Programm, das klug genug ist, sich nicht als Programm zu erkennen zu geben, das sogleich als neue Avantgarde gelten kann. Deshalb nennt Lu Jie das Projekt „an excercise“ – eine Übung, nicht zuletzt, um das Flüchtige des ganzen Projektes zu betonen. Zugleich – und das ist ebenso wichtig – geht es um die Erfahrung der Proletarisierten, um ihre Wünsche, die nur in Erfahrung gebracht werden können, wenn sie dort aufgesucht werden, wo sie sind: in den Dörfern. Diese sei aus der Avantgarde-Position nicht zu bergen. Alle Kunst, die sich noch heute als Avantgarde geriert, muss sich diese Feststellung als Vorwurf gefallen lassen.

7. Zwischenfragen

Wie lässt sich die Geschichte des Scheiterns der Revolutionen mit Avantgarde erinnern? Wie ist der Entwertung revolutionären Begehrens durch Sozialdemokratie und kommunistische Parteiapparate zu begegnen? Wie ist das Bild einer Revolution ohne Avantgarde zu entwerfen? Und welche Funktion kann Kunst dabei haben, deren Markt trotz aller Dekonstruktion immer noch von dem Diskurs der Avantgarde beherrscht ist?

Der lange Marsch – die noch nicht gelungene Revolution, die kommunistische Partei als verlorener Haufen, die Wanderung ohne Ziel – stellt ein solches Bild zur Verfügung, das gleichwohl kontaminiert ist, so kontaminiert wie jedes Bild der Revolution – dessen nämlich, was in der Waren produzierenden Gesellschaft ständig der Fall ist. Ist dieses Bild wiederzugewinnen?

8. Kollektive Produktion

Viele Fragen beantworten sich in der Produktion. Eine der Voraussetzungen des zweitägigen Workshops: Er hat die TeilnehmerInnen kein Geld gekostet. Auch wenn die Gäste bezahlt werden, handelte es sich bei der Gelegenheit, das Long March Project praktisch kennenzulernen, um ein Geschenk. Die Produktion einer gemeinsamen Performance folgte nicht dem Interesse ihres Verkaufs, sondern ihrer Wirkung innerhalb einer bestimmten, lokalen Situation. Wie lassen sich die Ten Farewells to Avantgarde nach Hamburg übersetzen, wo in der Galerie der Gegenwart gerade die China-Avantgarde-Kunst-Show läuft? In der Diskussion beim Workshop schält sich ein Bezug zum Langen Marsch heraus: An die Schulter – im Wechsel eine und zwei Personen – gefasst durch die Stadt zu gehen. Allerdings nicht vorwärts, sondern rückwärts.

Der Weg mit unbekanntem Ziel begann an der Galerie der Gegenwart. Die abweichende Praxis – doppelte Abweichung: gehen in einer merkwürdigen Kette, die weder an eine militärische Formation noch an eine offenere Demonstration erinnerte; rückwärts gehen – öffnete unerwartet Türen: Auf der Plattform vor der Galerie der Gegenwart wurde gerade zwischen China-Containern ein Festzelt aufgebaut. Privatraum im öffentlichen: Die Securities räumten freundlicherweise die Leitern weg. Schließlich hatten die Gehenden keine Augen auf dem Rücken. Auch die Aufsicht in der Kunsthalle ließ sich von der Konzentriertheit der über zwanzig Personen ablenken. Erst nachdem der erste Stock, insbesondere die Abteilung Körper durchmessen war (hinterher meinte eine Teilnehmerin, eine Ausstellung rückwärts gehend anzusehen sei viel besser, die einzelnen Arbeiten gerieten besser in den Blick, weil dieser nicht so abgelenkt würde) und als wir die Treppen zum Ausgang herunterkamen, scheiterte der Versuch, die Rückwärtsbewegung aufzuhalten. Selbstverständlich hat die Kamera von Qiu Zhijie ein Übriges zu der Inszenierung beigetragen. Entscheidend war aber die merkwürdige Kollektivität, die in dem Moment der Anrufung entstand. „Wer ist hier verantwortlich?“ ist die falsche Frage für Menschen, die rückwärts gehen. Entsprechend antwortete auch niemand auf die fast verzweifelte Frage, ob denn keiner Deutsch spreche. Wir gingen weiter. Niemand hatte es für möglich gehalten, so weit zu kommen. Auf der Kreuzung vor der Kunsthalle wurde es rot, als wir Richtung Lombardsbrücke gingen, so dass die Autos anfuhren – und uns von weitem sehend wieder mitten auf der Kreuzung anhielten, ohne zu hupen. Am Jungfernstieg fiel der denkwürdige Satz „In Deutschland geht man vorwärts“. Beim China-Spektakel wurden die Bilder vor der chinesischen Kunst durch Hamburger China-Kitsch ergänzt (die Stadt Hamburg will ja durch die China-Wochen ihre Kompetenz in Sachen China beweisen. Ob dies durch einen goldenen Drachen in der Alster gelingt, bleibt fraglich – doch wahrscheinlich spielt es keine Rolle, es braucht eben nur ein wenig China-Restaurant im öffentlichen Raum, damit mit einem diktatorischen und menschenverachtenden Regime gehandelt und die eigene Herrschaft über so ein lustig-exotisches Spektakel vergessen werden kann). Die Performance erzeugte eine Fremdheit im Raum, die nicht konsumiert werden konnte. Die Situation, die produziert wurde, ließ sich von niemandem übersehen. Es war immer nur der zurückgelegte Weg gesehen, der zwar – wie im Fall der Kunsthalle – als Erfolg erscheinen konnte, aber immer auch ein Blick auf die uneingelöste Vergangenheit einbegriff. Und geht, wer am Anfang der Gruppe, rückwärts geht, voran? Sind diejenigen, die das Ende der Kette zu bilden scheinen, nicht eigentlich am Anfang? Oder ist es genau umgekehrt?

Der Kreis um die Binnenalster wurde nicht geschlossen.


Weitere Informationen zum Long March Project unter www.longmarchspace.com

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