Prolog
Vorhin in der Tino Sehgal-Ausstellung konfrontierte mich ein junger Mann, 21, mit der These, dass die Menschen sich immer mehr in virtuellen Realitäten bewegen würden und er fand das ist ein Problem. Ich fragte ihn, ob das Teil seiner vorgegebenen Rolle sei, er meinte „Nein, ich bin ich!“. Ich war auf der Suche nach dem Erfolg. Sehgal hat Erfolg. Ich habe ihm gegenüber das Vorurteil er sei ein schlaues Bürschchen, vom Denken her ein BWLer, der erkannt hat, dass mit kalkulierter Intellektualität (wer schafft es sonst aufs Sofa von Sloterdijk) und Konsequenz in der Kunstszene etwas zu holen ist (wer traut es sich nichts mehr zu produzieren und dokumentieren, na ja, es gibt schon Dokumente und im Grunde produziert er „Waren“, die sich verkaufen lassen...). Das neunmalkluge Urteil eines Neiders, der es nicht mal schaffte den Termin der Podiumsdiskussion mit Sehgal richtig in den Terminkalender einzutragen.
Jetzt sitze ich hier und will in „second life“ einen Avatar kreieren. Es soll ELAY, ein behinderter Rollbrettfahrer werden, der sich dort bettelnd bewegt. Ich bin gespannt, ob betteln dort erlaubt ist. Ich möchte diese Erfahrung zu und in Texten machen. Ich will eine Kolumne schreiben. Ich werde zuerst die Daten meines Rechners sichern, und ab jetzt regelmäßig, damit dieses Projekt kein Sicherheitsrisiko darstellt. Ein Freund, dem ich diese Angst offenbarte, lachte - wenn jemand es will sitzt er schon lange in meinem Rechner und pinkelt mir auf die Festplatte...
Danach werde ich online zwei neue Internetseiten kaufen. Der junge Mann hatte Recht: das virtuelle Handeln bestimmt auch große Teil meines Lebens. Da ist das analoge Gegengewicht „Kind, Niklas“ heilsam – er treibt mich an meine Grenzen und schmerzhaft darüber hinaus. Auch in der zweiten Realität werde ich Probleme bekommen. In die allgemeine Suchfunktion des Programms, das mich in die zweite Realität entführen wird gab ich „begging“ ein. Es ist verboten. Ebenso etwas zu verkaufen oder Werbung zu machen. Das verstehe ich nicht, denn es wurde davon berichtet, dass einzelne Menschen hier Dinge wie aufbereitete Grundstücke mit viel Erfolg verkauft haben sollen und immer mehr Firmen hier ihre virtuellen Filialen eröffnen.
Ich denke daran, ELAY mit einem Schild auszustatten, auf dem steht: „Ich darf und will nicht betteln, aber ich weiß nicht, wovon ich hier meinen Lebensunterhalt bestreiten soll!“ Peinliches Ausweichmanöver eines Gesetzesfürchtigen, der noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam. Vielleicht sollte ich erstmal meine christliche Erziehung in der ersten Welt zurücklassen. Welche „Werte“ wohl im zweiten Leben wichtig sind? Ich forsche weiter in der zweiten Realität. „Disability“ gibt es nicht, „disabled“ schon, offenbar immer in Zusammenhang mit irgendwelchen Features oder Programmen, die nicht funktionieren. Das war also der Prolog. Ab geht es in/nach Second Life!
Chrisdian Wittenburg, Januar 2007
Anmerkung:
Die seit Anfang des Jahres entstandenen Texte werden nach und nach ins Netz gestellt um dann in der Gegenwart anzukommen und "live" von den neuesten Erlebnissen des ELAY Egoyan zu berichten.