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1. Februar 2009

"Hamburg muss brennen!"

Bei der Premiere von Volker Löschs Interpretation des Stückes „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Chareton, unter der Anleitung des Herrn de Sade“ von Peter Weiss im Hamburger Schauspielhaus gab es (fast) einen Skandal. Die Kultursenatorin Karin von Welck intervenierte beim Intendanten Friedrich Schirmer, dass dieser die Verlesung der Namen und Adressen der reichsten Hamburger durch den aus Hartz IV-Empfängern gebildeten Chor am Ende des Stückes verhindern möge. Nach der Verlesung haben einige der genannten eine einstweilige Verfügung bewirkt. Das bürgerliche Theater als spezifischer, sensibler öffentlicher Raum - die Namen waren im Manager Magazin längst veröffentlicht - wurde  ebenso sichtbar wie die Möglichkeiten eines Theaters, das nicht auf Repräsentation, sondern auf das nicht-bürgerliche Mittel des Chors setzt. Torsten Michaelsen analysiert für THE THING "Marat, was ist aus deiner Revolution geworden".

Marat, was ist nur aus unserer Revolution geworden


Das Stück „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“, das derzeit im Hamburger Schauspielhaus in der Inszenierung von Volker Lösch gegeben wird, beruht auf dem Drama „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Chareton, unter der Anleitung des Herrn de Sade“. Das Stück von Peter Weiss wurde im Jahr 1964 uraufgeführt, war ein großer Erfolg und wurde in den letzten 45 Jahren unzählige Male inszeniert. Wie der komplizierte Titel schon erahnen lässt, hatte Weiss sein Stück als Spiel im Spiel angelegt: Auf der Bühne zu sehen ist nicht einfach ein Schauspiel über die letzten Stunden des radikalen Revolutionärs Jean Paul Marat, die dieser am 13. Juli 1793 in der Badewanne verlebte, um seine quälende Hautkkrankheit zu lindern, und in der er schließlich den Messerstichen seiner Mörderin Charlotte Corday erlag.

Peter Weiss lässt dieses Geschehen von den Insassen einer Anstalt spielen – von den Insassen des Hospizes zu Chareton, in welches, so Weiss in seinem Nachwort zum Stück, diejenigen gesteckt wurden, „die sich durch ihr Verhalten in der Gesellschaft unmöglich gemacht hatten, auch ohne dass sie geisteskrank waren“. Der Marquis de Sade war dort von 1801 bis 1814 interniert und tatsächlich leitete er auf der Bühne des Hospizes Aufführungen eigener Theaterstücke an. Zum Vergnügen des Pariser Bürgertums, so Peter Weiss weiter in seinen Erläuterungen: „In den höheren Pariser Kreisen galt es als exklusives Vergnügen, Sades Vorstellungen in dem ‚Schlupfwinkel für den moralischen Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft’ zu besuchen.“

Das Spiel im Spiel blickt zurück: Die Insassen der Anstalt zu Chareton inszenieren eine Begebenheit aus der revolutionären Vergangenheit zu einem Zeitpunkt, als die Restauration und die Konterrevolution unter Napoleon, gesiegt hatte. Dieser Rahmung der „Handlung“ wird von Regisseur Volker Lösch eine weitere hinzugefügt: Noch ist der Vorhang nicht aufgezogen, da betritt der Chor, der in der Vorlage Volkes Stimme spricht, die Bühne. Er wird in der Inszenierung des Hamburger Schauspielhauses von Hartz IV EmpfängerInnen gespielt. Und die fallen aus der Rolle: Bevor das Schicksal Marats seinen unabwendbaren Lauf nimmt, machen die Chormitglieder etwas, das sich nicht in der Suhrkamp-Ausgabe, in der Peter Weiss´ Stück erhältlich ist, lesen lässt: Sie sprechen von Erfahrungen aus dem Leben in Armut. Immer wieder setzen sie an, oft beginnt eine Stimme allein. Doch dann fallen weitere SprecherInnen ein und der Bericht wird mehrstimmig und atemberaubend exakt weitergeführt. Die Erfahrungen der Erniedrigung, von der sie reden, sind individuell – die Einzelne, der Einzelne ist den Demütigungen jeweils allein ausgeliefert – und werden doch von den vielen, die in der gleichen Situation sind, geteilt. Der Chor teilt sie mit: weniger, um das Publikum um Mitleid für harte und ungerechte Schicksale anzugehen. Das chorische Sprechen, das lässt sich nicht überhören, bedeutet vielmehr Ermächtigung: Je mehr Stimmen sich einer Erzählung annehmen, umso lauter wird sie vorgetragen. Die Stimmen fordern kein Almosen ein, sie fordern heraus. Sie sprechen schnell, sie klingen aggressiv, sie assoziieren sich im Sprechen: Fast wirken sie bedrohlich.

Der Chor der Hartz IV-Empfänger im Regen der Produkte.

Der Chor spricht in eigener Sache: Der Chor organisiert. Der Chor, aus dessen Gesang sich in der Antike die Tragödie entwickelte und der im bürgerlichen Theater von der Bühne verschwunden ist, organisiert bei Lösch die Ausgeschlossenen: Diejenigen, für deren Selbstverständigung in einem bürgerlichen Staat keine Theater gebaut werden. Diejenigen, aus deren Freizeit kein Mehrwert herauszupressen ist und die folglich auch im Publikumsraum nichts zu suchen haben. Sie treten vor die Augen eines Publikums, für das es eine soziale Distinktion bedeutet, ins Theater zu gehen und sich nicht das Trash-TV  anzuschauen, in dem sich – so hört man – die Arbeitslosen die Schädel einschlagen. Die Hartz IV-Empfänger – so lässt sich Löschs Geste verstehen – sind die Anstaltsinsassen der Spielzeit 2008/2009, die Verzichtbaren, diejenigen, die sich in den Worten Peter Weiss durch ihr Verhalten in der Gesellschaft unmöglich gemacht haben und die nur noch als Fälle, nicht mehr als selbstbestimmte Subjekte wahrgenommen werden. Im Chor auf der Bühne assoziieren sie sich zu ProduzentInnen.

Doch dann kommt etwas dazwischen: Das Stück über die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats beginnt, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Schauspielhauses Hamburg. Die Mitglieder des Chores treten zurück, sie nehmen scheinbar die Rolle ein, die ihnen in Peter Weiss´ Stück zugeteilt ist: Sie erheben im Hintergrund Volkes Stimme, während im Vordergrund das Leben Marats kein gutes Ende nimmt. Ab und zu, wenn sie zu sehr aufmurren, springt Coulmier auf die Bühne, in der Vorlage der zu gleichen Anteilen joviale und autoritäre Anstaltsleiter, in der Hamburger Inszenierung eine Mischung aus immer gut gelauntem Fußballcoach und affigem Selbstmanagement-Consultant: Wo Peter Weiss noch die gute alte Repression von außen intervenieren ließ, unterwirft Volker Lösch seinen Chor dem omnipräsenten Diktat der Selbstperfektionierung. Und siehe da - selbst die Abgehängten bekommen hier noch etwas zu lernen: Dass sie selbst für ihre Situation verantwortlich sind und nur an sich glauben müssen, um sie zu verändern.

Doch damit erschöpft sich die Rolle des Chores noch nicht. Auch wenn im vermeintlichen Hauptteil der Inszenierung die SchauspielerInnen des Ensembles im Vordergrund stehen, so hat Lösch doch eine augenfällige Uminterpretation des Stückes vorgenommen. Zum Kern des Stückes wird der vom Chor immer wieder vorgetragene Kehrreim, welcher der Hamburger Inszenierung auch ihren Titel gegeben hat:

„Marat, was ist nur aus unsrer Revolution geworden
Marat wir wolln nicht mehr warten bis morgen
Marat wir sind immer noch arme Leute
Und die geforderten Änderungen wollen wir heute.“


„Peter Weiss – was ist nur aus deinem Stück geworden?“

Dieser Refrain ist der Motor der Inszenierung. Er setzt ein buntes Karussel der Revolutionshelden in Bewegung, in deren Gestalten Marat nacheinander auf der Bühne inkarniert: Als Lenin schwebt er vom Bühnenhimmel ein und sinniert darüber, was die Toten der Revolution bedeuten im Verhältnis zu all den Toten, die die vorrevolutionäre Gesellschaft brachte, als Fidel Castro tanzt er Salsa, Rudi Dutschke personifizierend wirft er mit Strickpullis um sich. Und immer wieder ertönt beim Abtreten der Figuren der Kehrreim des klagenden Chors: „Und die geforderten Änderungen wollen wir heute“.

Lösch verschiebt damit das Schwergewicht des Stückes: Entwickelt sich das Spiel in Peter Weiss´ Vorgabe aus den Dialogen zwischen Marat und de Sade und den Interventionen der späteren Mörderin Corday, die auf den Blutzoll der Revolution aufmerksam macht, ist in seiner Inszenierung der Chor die bildgebende Instanz. Das Stück ist somit nicht mehr allein eine Auseinandersetzung mit der Gewalt der Revolution, ihrer Notwendigkeit oder Illegitimität, sondern über das Politische, das immer nur in Figuren der Repräsentation gedacht werden kann. Ein Stück darüber, was aus der Forderung nach Revolution geworden ist: Ein Reigen von Revolutionshelden, die mit dem Leben derjenigen, die eine Umwälzung fordern, nichts zu tun haben. Das Verlangen des Chores nach sozialer Veränderung, nach Umwälzung der Besitzverhältnisse, nach einem Anteil am Reichtum und nach einer Stimme auf der Bühne führt zu immer neuen imaginären Figuren, die das Verlangen zu befriedigen versprechen. Sie alle sind Figuren der Repräsentation – im doppelten Sinne: Sie repräsentieren politische Bewegungen, sind zu ihren Stellvertretern oder Ikonen geworden und sie stehen auf der Bühne und spielen eine Rolle. Das Moment der Farce, welches dem Stück von Peter Weiss sowieso innewohnt, steigert Lösch konsequent ins Alberne. Die Rollen, die von den professionellen Schauspielern gegeben werden, besitzen keine Tiefe, sie bleiben Witzfiguren – was bis zur Grenze des Erträglichen geht und vielleicht auch der Grund dafür war, dass bei der von mir besuchten Vorstellung ein zorniger Besucher den Publikumstribun gab und ausrief: „Peter Weiss, was ist nur aus Deinem Stück geworden!“

Im Vordergrund de Sade, Marat auf dem Rand der Badewanne vom Chor beäugt.

Die Metamorphosen des Jean-Paul Marat enden in der Gegenwart: Als Oskar Lafontaine betritt Marat schließlich die Bühne. Nun ist sein letztes Stündchen nicht mehr fern, denn die Mörderin Corday wartet schon in Gestalt von Adelheid Streidel auf ihn, die – einige werden sich erinnern – 1990 dem damaligen Kanzlerkandidaten Lafontaine ein Messer in den Hals rammte. Sie wollte mit ihrer Tat auf die Menschentötungsfabriken aufmerksam zu machen, die – so ihre Aussage – mit Billigung der Politik in unterirdischen Höhlen betrieben würden. Corday wiederum begründet in Peter Weiss´ Stück ihre Anschlagspläne damit, dass sie das Morden der radikalen Jakobiner beenden wolle. Marat ist ihrer Ansicht nach einer der Hauptverantwortlichen dafür.

Aber das ist nicht der einzige Grund für die Erscheinung Marats als Lafontaine: Peter Weiss Stück endet mit einem – ironischen – Lobgesang auf den Machthaber, der zu der Zeit herrschte, in der die Insassen der Anstalt zu Chareton ihr Stück auf die Bühne brachten, nämlich Napoleon Bonaparte. Vorgetragen von demselben Chor, der zuvor denjenigen eine Stimme gab, die auf Veränderung ihrer sozialen Lage drängten:

„Und selbst wir Internierten sind nicht mehr gekettet
und für immer ist die Ehre unseres Landes gerettet
und um Politik brauchen wir uns nicht mehr zu streiten
denn einer ist da um uns alle zu leiten
um den Armen zu helfen und auch uns Kranken
und diesem einen haben wir alles zu verdanken
diesem einzigen Kaiser Napoleon
der glorreich beendet die Revolution.“

In der Figur Lafontaines, welche die Presse gern als „Napoleon von der Saar“ betitelt, fallen der Revolutionär und die Restauration – Kaisertum und nationaler Überschwang – endgültig in eins und sterben gemeinsam. Doch damit sind die Wünsche noch nicht begraben: Das Stück ist noch nicht zu Ende. Die Schauspieler gehen von der Bühne, die Doppelgänger Marats verschwinden. Es bleibt einzig der Chor. Der spricht weiterhin davon, was es heißt, arm zu sein. Dieses Sprechen ist nicht authentisch, es ist eine praktische Kritik der politischen und theatralen Repräsentation. Wäre es authentisch, stellte es die Mitglieder des Chores aus vor einem Publikum, das sich ergriffen von deren „Schicksalen“ zeigen kann. Authentisches Sprechen wiederholte somit die Enteignung, von der die Stimmen erzählen, und zementierte ihren Opferstatus. Die Hamburger Inszenierung hingegen weist einen Weg hinaus – hinaus aus dem Theater. Es folgt die Schlusspassage, die sie zu einem Skandalstück machte. Der Chor wird bedohlich, seine Mitglieder verlesen die Namen und Adressen derjenigen Hamburgerinnen und Hamburger, die zu den 300 reichsten Deutschen gehören. Er nimmt sich damit den historischen Marat zum Vorbild, der in der von ihm herausgegebenen Zeitung, dem Ami de Peuple, die Namen aller Feinde der Revolution veröffentlichen ließ, um sie so dem Zorn des Volkes auszuliefern. Im Hamburg der Gegenwart herrscht keine revolutionäre Situation und so wird sich niemand nach dem Ende des Stückes aufmachen, um bei den angegebenen Adressen vorbeizuschauen und „die Möbel gradezurücken“. Im Hamburg der Gegenwart zahlen die 28 reichsten Bürger der Stadt nicht einmal mehr Vermögenssteuer. 1,2 Milliarden Euro mehr hätte der Senat zur Verfügung, wenn sie es täten – so rechnet der Chor dem Publikum vor. Die damit implizit gestellte Forderung, diese Steuer wieder einzuführen, ist alles andere als revolutionär und reduziert die Ungleichheit, die der Kapitalismus hervorbringt, auf ein regulierbares Verteilungsproblem. Tatsächlich geht es nicht um die einzelnen Forderungen, sondern um den Modus, in dem sie artikuliert werden. Das chorische Sprechen arbeitet an der Veränderung der Produktionsverhältnisse, auf die die Mitglieder des Chores den Anspruch erheben. Sicherlich – das geschieht nur auf der Bühne. Doch stellt das organisierte chorische Sprechen, das nichts repräsentiert, eine Geste dar, die den Mitgliedern des Chores vielleicht auch außerhalb der Bühne zitierbar bleibt.



Kommentare [2]
konraat schrieb am 03.02.2009 13:24

Es hätte ja durchaus seinen Reiz: Volker Lösch, Gastregisseur aus Stuttgart, ersetzt die Patienten des Hospizes zu Charenton durch einen Chor aus 24 lebensechten Hamburger ALG-2-Empfängern. Doch selbst nach zwei Stunden Konfetti und Karneval auf der Bühne des Schauspielhauses bleibt kaum mehr als der Reiz der bloßen Idee. Nicht mal der zentrale Konflikt zwischen den Herren Marat und de Sade, zwischen kämpferischen Sozialismus und einem pornografischen Zynismus, kann sich gegen den subproletarischen Laien-Chor behaupten, den Lösch vorführt, als suche er ein theatrales Äquivalent zu Harald Schmidts populären Playmobil-Aufstellungen.

Schon Peter Weiss hatte sein Marat/Sade (eigentlich: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade) um 1963 als ein Stück mit drei Zeitebenen verfasst: Die Ermordung Marats kurz nach der französischen Revolution, die Darstellung dessen in napoleonischer Zeit durch die Schauspielgruppe eines Irrenhauses unter Anleitung de Sades (dereinst ebenfalls Insasse) und anhand von Text-Einschüben auch die Zeitebene des Hier und Jetzt. Volker Lösch schien letzterer ein besonderes Gewicht geben zu wollen. Gleich zu Beginn des Stückes melden sich chorisch die ALG-2-Empfänger zu Wort, erscheinen und verschwinden wieder hinter einem schweren roten Samtvorhang. Sie rattern ihr Leid herunter (einen Prolog, verfasst von Lösch und den Darstellern selbst) und stehen nach fünfzehn langen Minuten schließlich zusammen auf der Bühne als die dumpfe Masse, die sie über das ganze Stück hinweg bleiben müssen. Keine ihrer Geschichten erreicht Tiefgang und Dramatik. Nichts davon, wie es die neoliberalen Stricke verstehen, den Einzelnen zu knebeln. Die Masse kotzt Brocken. Ist aber nicht gerade die implizite Vereinzelung der Nährboden eines Kapitalismus postdemokratischer Prägung?

Aber mag man es als Experiment durchaus zulässig finden, die Heerschar der Vereinzelten mal wieder als Masse zu denken, die Versuchsanordnung die Lösch hier präsentiert wirkt so verstaubt wie die Kostüme, die in der ersten Szene zum Einsatz kommen: Marat und de Sade werden eingeführt und man möchte ob der platten Darstellung eigentlich jetzt schon das Haus verlassen, in dem man es ja auch sonst selten länger als bis zu Pause aushält (dass der Vertrag von Schauspielhaus-Intendant Schirmer um weitere sieben Jahre verlängert wurde, war Hamburgs Presse leider keinen Skandal wert). Zunächst aber hält das Bühnenbild der übrigen Szenen, welches nun freigelegt wird, einen davon ab, vorzeitig das Weite zu suchen (Bühne: Cary Gayler). Der Bühnenraum ist mit großen weich gepolsterten Wänden ausgestattet, auf denen jeweils in riesigen Lettern der Hybrid eines Aldi- und Lidl-Logos prangt. Wenn die Chormitglieder hernach immer wieder gegen die weichen Mauern der Discounter-Gummizelle springen und immer wieder auf den ebenfalls weichen Boden plumpsen, dann entstehen tatsächlich Bilder, die produktiv mit der Gegenwart arbeiten. Auch so, wenn sich ein dynamischer Mittvierziger aus dem Publikum erhebt, um den larmoyanten Arbeitslosen mit unverbesserlichem Jürgen-Klinsmann-Optimismus mal ordentlich Motivation zu coachen. Dies sind die wenigen sehenswerten Momente der Inszenierung.

Immer wieder betritt Marat in unterschiedlicher Kostümierung die Szenerie, erscheint als Hippie-Version von Rudi Dutschke, als Alzheimer-Variante von Fidel Castro – klamottenhaft wirkt das wohl mit Absicht: Die linken Ikonen sind zu Witzfiguren verkommen und wenn der letzte Marat in der Maskerade Oskar Lafontaines die Bühne erklimmt, dann spätestens möchte man den Staub aus der linken Kehle spülen. Aber die Zäsur bleibt aus. Marat wird ermordet, die linke Klamotte aber fortgeführt, ohne eine Parole auszulassen. Die Arbeitslosen, die im Stück noch jedem der linken Heilsversprecher leichtgläubig nachrennen mussten, dürfen sie nun selbst ausrufen – im Chor natürlich. Da ist sie wieder: Die Masse, der Pöbel, wir ham’ kein Bock mehr, uns stinkt’s! Das wirkt so zeitgemäß und revolutionär wie Montagsdemonstrationen in Plastiksäcken.

Mit dem Pathos eines Manifestes verkündet der Chor abschließend Vermögen, Namen und Anschriften der 36 reichsten Hamburger. In der Stadt hat das einen kleinen Theaterskandal ausgelöst, weil einige der Reichen ihre Nennung richterlich unterbinden ließen. Und gewiss ist das so feige, wie der Anruf der Kultursenatorin von Welck beim Intendanten, in dem sie diesen gebeten haben soll, auf die Verlesung der Multimillionäre zu verzichten. Dass aber das Stück der eigentlichen Tragödie der auseinanderklaffenden Armutsschere nicht gerecht wird, sich aber genau diesen Anspruch auf sämtliche Programmwerbung kleistert, ist ebenso skandalös. Wenn die Inszenierung der Versuch sein möchte, aufzuführen, wie rückwärtsgewandt und ideenlos die heutige Opposition ist, kann man hingegen durchaus von einem Erfolg sprechen. Die Inszenierung fände dann freilich ihre konsequente Fortführung in Publikumsreaktionen und Medienecho: „Bravo!“ rufen da einige nach dem Ende der Aufführung, was man mindestens ebenso lange nicht mehr im Theater hören konnte, wie die geballte Ladung unerträglicher Zwischenrufe („Ausziehen!“) während der Aufführung. Unweigerlich erinnert das an die Sprache und das aufgeladene Klima der späten sechziger Jahre, mit dem Unterschied dass auf der Bühne eben nur noch Klamotte ist, Operette ist – opulent, hoffungslos veraltet und wirkungslos.

Unser Mediensystem aber ist eine Katze, die sich in den Schwanz beißt und zwar fortlaufend. Jedes Déjà-vus taugt zur Neuigkeit und wird in Variation wieder und wieder verdaut. Zwanghaft reagieren die Medienformate immergleich auf einfältige Symboliken, und weil es solche in der Aufführung hagelt, wissen auch gleich eine ganze Reihe Immergleiche Immergleiches zu berichten. Aus dieser Schlaufe gibt es kein entrinnen. Der kess ironische Matthias Matussek, Déjà-vus des Medientrauerspiels um Helmut Karasek, hatte natürlich schon während der Aufführung für alle sichtbar sein Fotohandy zum Einsatz gebracht und auch anschließend war er der erste, der den Fernsehkameras von 3Sat Rede und Antwort stand. Was er gesagt hat und was die Kulturmagazine im Fernsehen aus der Inszenierung gebastelt haben – man wird es sich denken können: Revolutionär, politisch, radikal war das – dazu ein eine professionelle Geste und dann zur Schalte ins Studio. Ein paar Tage später darf Maischberger ihre Sendung mit der Forderung eröffnen: „Marx hatte Recht! Gebt uns den Sozialismus wieder!“. Ja Mensch – das kennen die Leute, das ist einfach, knackig und prägnant. Und gerade jetzt zur Finanzkrise. Zu Gast: Peter Sodann, Günther Wallraff und Arnulf Baring. Hochaktuell!

H. Dierks schrieb am 23.05.2009 00:43

Oh, da hasst aber jemand konsequent das Schauspielhaus. Da ist dann wohl auch keine konstruktive Kritik zu erwarten. Meine Empfehlung: ins Thalia Theater gehen oder vielleicht lieber gar nicht mehr ins Theater gehen.
H. Dierks

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