Zum Beispiel Wilhemsburg
von Nicole Vrenegor
Wie intervenieren gegen die neoliberale Umgestaltung der Städte? Das wurde auf der „Right to the City“-Konferenz in Berlin diskutiert.
Städte boomen. UN-Schätzungen zufolge lebten 2007 erstmals weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Bis 2030 wird rund zwei Drittel der Menschheit in Städten wohnen. Auch das Thema „Stadt“, das Reden und Schreiben über die Stadt, hat derzeit Konjunktur – gerade in der Linken. So trafen sich in Berlin vom 11. bis zum 13. April über 250 Menschen, um über „Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt“ zu diskutieren. Veranstalter der Konferenz „Right to the City“ war der BUKO-Arbeitsschwerpunkt StadtRaum in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung (1).
Doch was ist überhaupt die Stadt und was ist gemeint, wenn AktivistInnen sich auf ein Recht auf diese beziehen? Dies erläuterte Britta Grell von INURA (International Network for Urban Research and Action) in einem Einführungskurs zum Begriff „Right to the City“. Dieser geht zurück auf den marxistischen Philosophen Henry Lefèbvre, der in seinem Hauptwerk „La production de l’espace“ (1974) eine umfassende Theorie zur Produktion des Raumes entwickelte. Für Lefèbvre ist Raum vor allem ein gesellschaftlicher Raum, der sozial hergestellt und zugleich erfahren, erdacht und gelebt wird. Das Zusammendenken der physischen, mentalen und sozialen Dimension von Raum als eine komplex verwobene Dreiheit ist sicherlich eins der großen Verdienste der Lefèbvreschen Analyse, bietet dies doch einen Ausweg aus der bis dahin üblichen Reduktion des Raumes entweder auf einen rein ökonomischen oder rein ideellen Charakter. Wurde Lefèbvre zunächst vor allem in der Geografie, den Urban Studies und im Kunstkontext rezipiert, so gewinnt er zunehmend auch in der Politikwissenschaft und der Philosophie an Aufmerksamkeit. Was die Rezeption seiner Werke – und damit auch die Nutzbarmachung für soziale Bewegung zumindest in Deutschland erschwert – ist die Tatsache, dass nur ein geringer Teil seiner rund 70 Bücher überhaupt in deutscher Übersetzung vorliegen.
Was das Arbeiten mit seinen Begriffen zudem leicht unbefriedigend macht, ist, dass Lefèbvres Vision von einer anderen Stadt sehr unkonkret bleibt – vielleicht bleiben muss. Es fehlt mal wieder eine „Gebrauchsanleitung“, wie denn Stadt in einem radikal emanzipativen Sinne gestaltet sein müsste. Und auch die innerlinke Debatte darüber, wie eine lebenswerte Stadt konkret aussehen könnte, befindet sich noch in den Anfängen. Was bedeutet ein Recht auf Stadt und welche Instrumente zur Durchsetzung sind nötig? Klar ist, dass das Recht jedes Einzelnen, seinen/ihren urbanen Raum zu denken, gestalten und zu erfahren, weit über die üblichen Strategien eines good urban governance hinausgeht. Zwar ist die Teilhabe von BewohnerInnen auch in neoliberalen Stadtmanagementkonzepten ausdrücklich vorgesehen und erwünscht. Dies gilt jedoch nur für Bereiche, in denen die Stadt ihre kostenintensive Verwaltung entschlacken will und solche, die sich nicht gewinnbringend privatisieren lassen, wie zum Beispiel soziale Aufgaben. Eine wirkliche Partizipation im Sinne einer „Stadt für alle“ sieht anders aus.
Auch wenn sich bereits viele Gruppen und Initiativen positiv auf die abstrakte Forderung nach einem Right to the City beziehen, wie die Habitat International Coalition, so gibt es hierzulande noch reichlich Diskussionsbedarf. Wurzelt die Bezugnahme auf Stadt gerade in linken Kontexten nicht auf einem eurozentrischen, westlichen Verständnis von „Stadt als Versprechen,“ die als Fluchtpunkt gedacht und projiziert wird, der es Einzelnen ermöglicht, sich von den Zwängen des Dorfes, der traditionellen Familie und den damit einhergehenden Normierungen zu lösen?
Viele Megacities speisen sich dagegen nicht so sehr aus einem Begehren, in der Stadt zu leben, sondern aus einem Zwang zur Verstädterung. Kriege, Umweltkatastrophen und der Kampf ums Überleben treiben viele Menschen in die Megastädte, die sich dort ein besseres Leben versprechen, was oft nicht eingelöst wird. Auch wenn millionenfach die faktische Aneignung von Stadt passiert, so z.B. in den türkischen Gecekondus, in provisorischen Siedlungen und auf Brachflächen, so ist diese Aneignung oft fragil und äußerst bedroht. Die nicht genehmigten Häuser können jederzeit abgerissen, der Aufenthalt verwehrt und die informellen Ökonomien zerschlagen werden. Auch hier bleibt die Frage, wie widerständige und oft aus der Not heraus entstandene Praxen verstetigt und vor staatlichen und privatwirtschaftlichen Zugriffen gesichert werden können? Ob insgesamt das Konzept „Recht auf Stadt“ hilfreich ist, um die sozialen Kämpfe um Stadt weiter aufzuladen und zu dynamisieren, wird sich erweisen müssen.
Wie unterschiedlich Formen der Aneignung je nach Kontext wirken können, das hat Ella von der Haide in ihrer AG anschaulich am Beispiel der Gemeinschaftsgärten gezeigt. (2) Die Filmemacherin und Indymedia-Aktivistin hat von 2003 bis 2005 verschiedene Community Gardens in Argentinien und Südafrika besucht und AktivistInnen interviewt. Im Zuge des ersten neoliberalen crashs am internationalen Finanzmarkt und der folgenden fundamentalen Staats- und Währungskrisen entstanden 2001 in Argentinien unzählige Gärten, die kollektiv und jenseits staatlicher Regulierung betrieben wurden. Rapide Verarmung, Inflation und die Empörung über den neoliberalen Ausverkauf führten bei vielen Menschen zu einer Politisierung, die unter anderem ihren Ausdruck in der gemeinsamen Organisierung von Gärten, inklusive Volksküchen fand: „Eine andere Welt ist pflanzbar“ – hieß der Bewegungsslogan in Anlehnung an das Porto-Alegre-Motto des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist möglich“.
Nicht grundsätzlich anders als das hegemonial Schlechte funktionieren hingegen die Gemeinschaftsgärten in Südafrika. Dort werden die Gärten vom Staat, von NGOs oder privaten Firmen als Mittel zur weiteren Entlastung der Sozialsysteme eingesetzt. Wo die Lebenshaltungskosten aufgrund von Privatisierung steigen, sollen die Gärten die schlimmsten Folgen in den schwarzen Townships kostengünstig und effektiv abfedern. Und die Gesundheitsministerin ist sich nicht zu schade, Knoblauch als Medizin gegen Aids zu empfehlen, schließlich sei der doch gratis zu haben. Dennoch sind auch diese Community-Gärten mögliche Orte der Begegnung und Organisierung von Widerständigkeit. Frauen, die diese Gärten zumeist betreiben, zapfen Strom an, pflanzen eigenes pestizidfreies Gemüse an, vertreiben Männer, die Chefallüren zeigen, und leisten Widerstand gegen die Wasserprivatisierung in Südafrika.
Um die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der eigenen Praxis drehte sich auch der Workshop „Revisiting InnenStadtAktion“, veranstaltet von der Gruppe metroZones. Äußerst selbstkritisch nahmen die MitinitiatorInnen das Konzept der InnenStadtAktion unter die Lupe. Die InnenStadtAktionstage fanden 1997 und 1998 jeweils überregional in 30 deutschen Städten statt und richteten sich gegen Privatisierung, Ausgrenzung und Sicherheitswahn. Sie hatten stark mobilisierenden Charakter und führten in vielen Städten zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen klassischen „PolitaktivistInnen“ z.B. aus dem Antira-Spektrum und linken Kulturschaffenden, was allein schon bemerkenswert war.
Im Nachklapp kritisierte metroZones vor allem den eigenen unspezifischen Begriff von Öffentlichkeit, der damals vorgeherrscht hat: Wen spricht man an und warum? Wie ist das Verhältnis zwischen Privat und Öffentlich und wer repräsentiert eigentlich wen? So wurde zwar viel von Ausgrenzung und Ausschlüssen gesprochen, eine wirkliche Bezugnahme und Einbindung der als „Opfer“ der städtischen Vertreibungspolitik identifizierten Gruppen gab es nicht. Dies habe zum Teil zu einer Stellvertreterpolitik geführt und zur Reproduktion der Stigmatisierung, so die scharf formulierte (Selbst-)Kritik. Viele Aktionen seien im Symbolischen versackt und hätten sich und ihre kritische Botschaft nicht vermittelt, wie etwa die Sparkassen-Raves. Auch die eigene Rolle als AkteurInnen der neoliberalen Umwandlung wurde nicht ausreichend thematisiert, gelten doch gerade die Kunst- und Kulturschaffenden als role model für Berlins „Neue Mitte“: engagiert, flexibel und selbstunternehmerisch erfolgreich. Bei aller auch berechtigter Kritik machte sich unter den rund 30 AG-TeilnehmerInnen eine gewisse Ratlosigkeit breit. Ein in der Runde zaghaft geäußertes „Aber Spaß gemacht hat’s schon!“ verwies humorvoll darauf, dass Antagonismen an bestimmten Punkten auch ausgehalten werden müssen, schließlich kommt Bewegung von bewegen und die ist glücklicher Weise unkontrolliert und unperfekt.
Mit der eigenen Rolle im Gentrifizierungsprozess befasste sich auch die Podiumsdiskussion am Anfang des Kongresses. Jaap Draaisma (Breedingplaces, NL) verdeutlichte am Beispiel Amsterdams den Wandel der städtischen Imagepolitik. Mit dem Slogan „Keine Kultur ohne Subkultur“ warb Amsterdam lange mit seinem alternativen und vermeintlich toleranten Image. Ab 2005 gab die neue Regierung dann die Losung „Top Stadt“ heraus und verfolgte eine am Standort orientierte Stadtpolitik, die sich lediglich ein paar Enklaven in der gentrifizierten Umgebung gönnt, da sie zur Marke Amsterdam irgendwie dazu gehören. Ob Draaismas Verein Freiraum, der besetzte Häuser und Zentren vernetzt und berät, nun selbst zum Gentrifizierungsprozess beiträgt oder ob es ihnen gelingt, zumindest punktuell Freiräume jenseits einer kapitalistischen Infrastruktur zu schaffen, ließ er offen.
Neben Jaap Draaisma waren mit Dirk Hauer (Gruppe Blauer Montag), Ole Frahm und Torsten Michaelsen (Ligna) auf dem Podium überproportional viele Hamburger Männer vertreten, was dazu führte, dass intensivst über Hamburg und vor allem Wilhelmsburg diskutiert wurde. Anlass war der Input von Ligna, die in Berlin ihr Projekt „Schatzsuche“ vorstellten, das auch in Hamburg sehr kontrovers diskutiert wird. Bei diesem „Radiohörspiel mit Performances und Events“ – so die Ankündigung – wurde zur Schatzsuche in Wilhelmsburg geladen. Die Startpunkte und weitere Anweisungen hierfür gab es über Radio.
Zum Hintergrund: im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA), die sich von 2007-2013 auf die Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg/Veddel fokussiert, gab es 2007 den so genannten „Kunst- und Kultursommer“ mit über 60 Projekten und noch mehr Veranstaltungen. Die IBA flankiert den vom Hamburger Senat anvisierten „Sprung über die Elbe“ also nicht nur mit vielen Bauprojekten, sondern auch mit diversen „Bürgerbeteiligungsgremien“ und jeder Menge Kunst & Kultur. Was Ligna nun von anderen, ebenfalls problematischen IBA-Kunstprojekten unterscheidet, ist, dass sie bei der Durchführung des Projektes die nichtkommerzielle Infrastruktur des Freien Senderkombinats (FSK) nutzten, indem sie Sendeplatz dafür blockierten und dies auch im Vorfeld nicht weiter bei FSK thematisierten, was Ole Frahm lapidar mit „haben wir vergessen“ begründete und als „Fehler unsererseits“ einräumte.
Dabei hat genau dieser „Fehler“ System, und wäre es wert gewesen, weiter diskutiert zu werden. Was passiert mit Projekten, die ursprünglich aus Protestaktionen und mit klarem Bewegungsbezug entstanden sind, wenn die MacherInnen sich mit diesen im Kunst- bzw. Wissenschaftsfeld etablieren? Wie sind eigentlich innerhalb der Linken unsere eigenen Re-/Produktionsverhältnisse? Womit verdienen wir „unser“ Geld und welche Widersprüche ergeben sich aus dem Anspruch, eigene Themen und Projekte machen zu wollen und der Notwendigkeit, sich damit zu finanzieren? Hätte man zum Beispiel die IBA-Kohle und die Teilnahme am Projekt nicht von vorneherein ablehnen müssen, da man sich nicht vor den Karren der Gentrifizierung Wilhelmsburgs spannen lassen will? Wie ist es zu bewerten, wenn Bewegungsimage und Bewegungsstrukturen für die Selbstvermarktung und Existenzsicherung genutzt werden? Gibt es hierfür einen kollektiven Umgang? (3)
Auch inhaltlich wäre ein detaillierteres „Revisiting IBA-Kunst- und Kultursommer“ dringend notwendig. (4) So haben gerade die kritischeren Kunstschaffenden versucht, in Wilhelmsburg zu intervenieren, indem sie „Gegengeschichten“ zur hegemonial erzählten gesucht und geborgen haben: eine Recherche über die von Gentrification bedrohten Orte, Interviews mit dort lebenden MigrantInnen, Spurensuche zu Kolonialismus, etc. Ist nicht genau diese „Schatzsuche“ ein „Aufwertungsakt“ par excellence: Das bisher nicht Inkorporierte wird sichtbar und damit für die spätere Verwertung handhabbar gemacht?
Und: den neoliberalen Umstrukturierungsplänen wird so der Nimbus der kritischen Selbstreflexion verschafft. Über Wilhelmsburg gibt es zum Beispiel die Anekdote, dass dort IBA-kritische Plakate aufgetaucht sind, die von städtischen MitarbeiterInnen zunächst entfernt wurden, woraufhin die IBA-Verantwortlichen das Abhängen unterbinden ließen, da Kritik ausdrücklich erwünscht ist. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Herrschaft immer da am effektivsten ist, wo sie ihre Kritik integriert. Aber was heißt das konkret für politische und künstlerische Interventionen in die Stadt? Finger weg von Wilhelmsburg? Fragen, die sich die teilnehmenden (linken) Künstler- und AktivistInnen sicherlich individuell gestellt haben, die sie aber nicht – wie im Falle Lignas – transparent gemacht und somit als Erfahrung kollektiviert haben.
Umso erfreulicher, dass sich am Ende alle auf den von Dirk Hauer auf der Auftaktveranstaltung stark gemachten Punkt, die eigene soziale Lage stärker zum Ausgangspunkt für eine Intervention und Organisierung zu machen, einigen konnten. Und weiteren Diskussionsstoff gibt es in Hamburg genug, stehen doch der nächste „Elbinsel Kultursommer“ mit dem bezeichnenden Titel „Erneuerbares Wilhelmsburg“ und das in der Hafencity angesiedelte „Off-Art-Projekt Subvision“ kurz bevor.
(1) Weitere Informationen und Auswertung zur Konferenz: www.buko.info/stadtraum
(2) Kontakt zur Filmemacherin: http://eine-andere-welt-ist-pflanzbar.urbanacker.net/25-0-ella-von-der-haide.html
(3) Zur Transparenz: Ich finanziere mich nicht über projektbezogene Kunst- bzw. Kulturarbeit, sondern arbeite mit einer halben Stelle bei der Bundesgeschäftsstelle der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) in Hamburg, bin jedoch an der Konzeption und Planung des „Right to the City“-Kongresses inhaltlich nicht beteiligt gewesen.
(4) So eine kritische Nachbereitung hätte in Berlin sicherlich den Rahmen des Kongresses gesprengt, in Hamburg steht sie aber meines Wissens auch noch aus.