Ein Muster, ein Monster und drei Illusionen – Künstlerische Arbeit in der lokalen Klassengesellschaft
Von Peter Birke
Wenn es überhaupt möglich ist, in einem derart dicht bespielten Stadtteil künstlerischer Arbeit eine kritische Funktion zuzuweisen, dann ist es jedenfalls nicht möglich, ohne auf Konflikte einzugehen, die vor Ort ausgetragen werden. Anspruch wäre demnach, dass die Kunst und ihre Vermittler_innen den Protest gegen die soziale Neuzusammensetzung der bespielten Quartiere wahrnehmen. In den letzten Wochen und Monaten sind, vor allem im Reiherstiegviertel, eine ganze Reihe Initiativen entstanden, die sich gegen Mieterhöhungen, eine rücksichtslose und entwürdigende Sanierung Marke SAGA oder die Profitorientierung von ehemaligen Genossenschaften wehren. In der lokalen Kunst hört man davon kaum ein Wort, auch dort nicht, wo, wie auf THE THING nachzulesen ist, "der Begriff Partizipation mit Praxis gefüllt" wurde. Warum? Mir fallen drei Ursachen ein.
1. Die IBA-Illusion
Die Internationale Bauausstellung ist eine Kampagne eines von der Stadt zu diesem Zweck gegründeten als GmbH funktionierenden Unternehmens. Das Ziel: Die Muster der Stadtentwicklung, die in der Konzeption der wachsenden Stadt eine Rolle spielen, auf das "Experimentarium" Wilhelmsburg zu übertragen. Aktivitäten finden entsprechend als Werbung um "kreative Köpfe" und private Investoren statt. Die Bürgerbeteiligung ist eine Farce und nichts anderes als Akzeptanzbeschaffung. Hier müssen auch die Kunst-Aktivitäten eingeordnet werden, wobei die IBA eine außerordentlich hohe Toleranz gegenüber linken und kritischen Ansätzen ausweist, solange es bei der Symbolpolitik bleibt. Ist die IBA ein Monster, das alles einverleibt, auch die Kritik und demgegenüber wir nichts tun können, außer mitzu(be)spielen oder in der Ecke zu sitzen?
Tatsächlich hat die IBA, im Vergleich etwa zur HafenCity GmbH, recht begrenzte Mittel, eigenständig im Quartier einzugreifen. Sie ist von den Entscheidungen der (staatlichen und privaten) Investoren abhängig. Dass das Image eines Stadtteils in der aktuellen Stadtpolitik bedeutend ist, ist sicher wahr, aber: dem Image müssen stets konkrete Eingriffe folgen, und die IBA ist gerade deshalb in der Tat eine "schwache" Einrichtung, weil sie dies selbst kaum tut. Ein Beispiel ist das "Weltquartier", ein so neu benanntes Quartier südlich des Reiherstiegviertels. Die IBA führte hier ein groteskes "Beteiligungsprojekt" durch, in dem die Bewohner_innen Wünsche zur Veränderung des Wohnumfeldes artikulieren durften. Aber in der Sanierung, die aktuell mit städtischen Mitteln durchgeführt wird, spielt dies keinerlei Rolle.
Hier geht es um die Interessen eines de facto privatwirtschaftlich funktionierenden Wohnungsbaukonzerns: die Erhöhung der Profitabilität der Wohnungen, die soziale Neuzusammensetzung der Bewohner_innen, die Zerstörung dessen, was in der Bürokratie des Konzerns als "problematisch" angesehen wird. Was die SAGA von den derzeitigen Mieter_innen hält, wird schon daran deutlich, dass trotz aller Partizipation die Rechte, die sich aus dem Mietvertrag ergeben, ganz offen mißachtet werden. Rechtzeitige Ankündigung der Baumaßnahmen? Fehlanzeige. Ein Schlagbohrer im Nachbarzimmer führt zur Mietminderung? Pustekuchen. Im Winter in einem Container duschen, weil das Bad gerade saniert wird? Ist ja nur für ein paar Wochen! Dafür steht eine Gesellschaft, die im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn verbucht hat, dessen Höhe alleine beinahe den IBA-Gesamtetat umfasst, nicht weniger als 130.000 Wohungen verwaltet und den Alltag etwa eines Drittels der Bewohner_innen der Elbinsel entscheidend beeinflusst.
Die meisten künsterischen Projekte überschätzen die IBA und unterschätzen die ökonomischen und bürokratischen Interessen, die in Wilhelmsburg im Spiel sind. Damit reproduziert die künstlerische Arbeit eine Distanz, die mit der eigenen Klassenlage zu tun hat: Die Wahrnehmung der Entwürdigung von Leuten, denen man selbst sozial sehr fern zu stehen glaubt, ist nicht besonders ausgeprägt, und leider werden auch dort, wo die Projekte sich "partizipatorisch" geben, die genannten Konflikte oft weder gesehen noch zugespitzt.
2. Die postindustrielle Illusion
Gegenüber besagtem "Weltquartier" liegt eine Fabrik, die Tierknochen zu Öl verarbeitet. Vor etwa einem halben Jahr hat etwas weiter entfernt eine Reperaturwerkstatt für Container eröffnet, die nunmehr den ganzen Tag über das Reiherstiegviertel und die zukünftige "neue Mitte" mit einer unerträglichen Gleichmäßigkeit lärmt. Am Reiherstieg hat eine Spedition ein paar neue Lagerhallen aufgestellt. An solchen Orten haben Kunstprojekte wie die Hafensafari in den letzten Jahren "Brachflächen" ausgemacht, die Romantik des Wildwuchses und der vorgeblichen Verlassenheit betont. Es ist kein Zufall, dass in den entsprechenden Arbeiten das Problem der Industrialisierung, das gerade im westlichen und südlichen Hafenbereich eine prominente Rolle spielt, nicht berührt wird. Der Wunsch danach, eine angeblich umfängliche kreative "Neugestaltung" der Freiflächen vorzuspiegeln, ist stärker. In einer Zeit, in der die wachsende Stadt von der GAL und dem Hamburger Abendblatt einträchtig als Spielplatz für die reichlich undefinierten "Kreativen" gesehen wird, geht ein Aspekt verloren, für den Hamburg nicht erst seit dem 20. Jahrhundert steht: Hier herrscht erstens Banko und zweitens die Hafenwirtschaft.
Wenn es um die postindustrielle Illusion geht, ist es selbstverständlich wichtig, die Relativität der Gentrifizierung zu betonen. Ein interessantes Kunstprojekt hat etwa eine "Geruchskartierung" des Reiherstiegviertels unternommen, wer sich fragt, warum die Investorensuche sich hier manchmal schwierig gestaltet, kann sich diese Kartierung ansehen. Noch bedeutender wäre es aber nachzusehen, wie die Inwertsetzung des Stadtteils dessen Topografie selbst verschiebt. In der Tat beseteht "Wilhelmsburg" ja aus einem runden Dutzend Quartieren, die sehr unterschiedlich be- und verhandelt werden. Die neueste Planung für den Bau einer Hafenlängsspanne, die die Elbinsel in der Mitte durchschneidet, machen dies deutlich. Im Mittelpunkt der Aufwertung stehen de facto einige wenige Straßenzüge auf der Veddel und im Reiherstiegviertel, der große Rest der Insel bleibt wie gehabt der Rest. Die Klassengesellschaft reproduziert sich nicht nur, die neue Raumaufteilung vertieft sie sogar; und dies nicht alleine in Form der "kleinräumigen Polarisierung",wie wir sie beispielsweise aus St. Pauli-Süd kennen.
Dazu gehört auch, dass die Arbeitsverhältnisse in der städtischen Öffentlichkeit nur insofern eine Rolle spielen als dass die Behauptung steht, alles sei gut, was Arbeit schafft. Der Einzug der GAL in die Regierung hat daran nichts geändert. Ein Thema für die Insel wäre der gesamte Komplex der städtischen Regulation von Erwerbslosigkeit und Erwerbstätigkeit. Dass die Logistikbranche jenseits der (noch) für die Hafen-Kernbelegschaften geltenden Tarifverträge ein wachsender Niedriglohnsektor ist, dass die Bauwirtschaft im Hafen von der Ausbeutung migrantischer und ostdeutscher ArbeiterInnen ganz gut lebt, aber auch, mit welchen Bedingungen die Hunderten von Ein-Euro-Jobbern in Wilhelmsburg konfrontiert sind, liegt außerhalb des Rahmens des Diskurses. Auch der Kunst sind nicht nur Kirchdorf-Süd, sondern auch die moderne Fabrik ein fremdes Land. Ein fremdes Land, das auf der anderen Seite des Kanals nur einen Steinwurf entfernt liegt.
3. Illusionen über uns selbst
Die letzte und wichtigste Illusion lässt uns über die eigene soziale Rolle schweigen. Dass die meiste Kunst auf der Elbinsel so opportun bleibt, hat meines Erachtens auch damit zu tun. Die Bedingungen, unter denen künstlerische Arbeit stattfindet, ist fast immer Anathema. Aber vielleicht ist die individuelle Nähe zu den als Illusion Nr. 1 und als Illusion Nr. 2 beschriebenen Problemen doch größer als auf den ersten Blick erkennbar? Und vielleicht ist Kunst eine Form, über virtuelle Kollektive zu sprechen, über "die Nachbarn", zu denen "wir" natürlich nicht gehören, merkwürdigerweise gerade deshalb, weil das Kunst-Ich in seinem eigenen Alltag in der Tat ungesicherte Lebensverhältnisse vorfindet, eine brutale Inwertsetzung der eigenen Arbeit, hochgradig traditionelle Geschlechterverhältnisse, eine außerordentliche Abhängigkeit von der Willkür der Meister und der Kulturindustrie. Vielleicht ist es nicht so, aber jedenfalls ist es so, dass das Thema der Kunst-als-Arbeit in der ganzen Debatte um die eigene Rolle innerhalb von Gentrifizierungsprozessen aus meiner Sicht allzu laut beschwiegen wird.
Alle drei Punkte müssen nicht Anathema bleiben; nicht die sozialen Konflikte, nicht die Arbeits-Kämpfe, nicht die eigene prekäre Klassenposition. Aber mittlerweile denke ich auch, dass ein Austausch über diese Fragen, der nicht durch Schmähungen und Vorwürfe blockiert ist, nur im Rahmen einer Debatte möglich wäre, die erstens nicht auf die Insel reduziert bleibt und zweitens darum bemüht ist, die Klassengesellschaft, in der wir leben und uns selbst bewegen müssen, handelnd zu verstehen.