Nackiger Flug
22.20 Uhr. Ich bin müde vom Tag mit dem Kind. Tina sagt, geh doch noch mal ins Atelier, da warst Du lange nicht. Eigentlich wollte ich nur noch aufräumen, Küche und Wohnzimmer, damit der Tag morgen einen guten Start hat. Jetzt sitze ich hier vor dem Rechner. Ich gehe auf die Second Life Site und bin offenbar noch immer eingeloggt. Mein Status: ich besitze kein Land und kein Geld, woher auch. Wie komme ich nur wieder rein. Ich will den Minidiscplayer anschalten um live ohne Tipp-Verluste Text zu produzieren, ich bemerke dass ich die Disk zuhause vergessen habe. Toller Anfang. Ich suche den Eingang, doch ich sehe nur ein Menü mit Blogs, Landkaufwünschen und einer »Search«-Funktion: Ich suche »How to get in« und eine Liste von Events erscheint. Ich klicke auf eines und nix passiert. In irgendeiner Support-Liste finde ich den Hinweis, dass der einfachste Weg hineinzukommen ist auf einen der grünen Punkte auf der Map zu klicken, doch wo ist die Map? Ich versuche es mit der Support-Hilfe Map. Wieder eine Liste von Events. Wieder passiert nix. Ich fühle mich wie süchtig und der Stoff liegt im andern Zimmer und ich finde den Schlüssel nicht. Bin eigentlich bereit aufzuhören. Aber ich habe einen Auftrag. Ich bin müde und denke, dass es sich doch garnicht mehr lohnt. Zehn vor elf. Ich bin auf die Startseite gegangen und dort gab es ein Fenster »Information Map« und darüber kam ich nach dem dritten Klicken in die zweite Welt. Emotional ist es die dritte bis vierte Welt. Ich bin in irgendeiner Art Spielcasino. Bis auf zwei andere Gestalten ist es leer und dunkel. Eine Frau trippelt auf der Stelle und dreht sich im Kreis. Ich geh mal hin und sehe wieder Brüste. Versuche durch sie durch zu gehen und einen kleinen Weg gehen wir gemeinsam. Der andere Typ steht still und macht nix. Ich versuche es mal mit einem Chat: »Do you know, what is going on here?« nichts »Why do you turn around all the time?« - wieder nichts. Die wartet wohl darauf, dass sich das Casino füllt. Ich fühle mich wie auf einer Messe, am letzten Tag haben die Hälfte der Aussteller ihre Stände schon abgräumt, etwas Display Gerümpel steht noch rum, die Hallenbeleuchtung ist aus, Notlicht an. Ich kann ja fliegen und tue es jetzt. Die Messehalle hat kein Dach und ich sehe, dass ich in irgendeinem dunklen Wüstenloch gelandet bin. Einige Industriekomplexe, Hallen, »futuristische« Architektur. Vor mir keine Menschenseele. In einem Gebäude dann doch zwei Gestalten. Einer schon aus der Ferne als Superman zu erkennen.
Den will ich treffen! Ist er doch für mich durch den Unfall Christopher Reeves zur Integrationsfigur für behinderte Menschen geworden! Ich fliege hin und weil er nicht stehen bleibt entsteht eine Verfolgungsjagd, die wegen meiner noch nicht sehr ausgeprägten 3D-Manövrierfähigkeit eher Slapstickcharakter hat.
Es gelingt mir, zum Teil in einer Art Gesellschaftstanz mit ihm mitzuhalten. Irgendwann levitiert er und schießt schnell nach oben. Vielleicht ist er homophob und deutete mein Interesse falsch. Fliegen ist ja sein Metier. Deswegen versuche ich gar nicht erst ihm zu folgen. Nach etwas umherirren in dem Casino habe ich genug und fliege los, es geht hoch in die Wolken.
Über mir erscheint eine weiße quadratische Fläche. Ich fliege von unten dagegen und werde aufgehalten. Über den Rand erklimme ich die Fläche. Zu drei Seiten umgibt sie ein Zaun.
In der Mitte ein Objekt, das mich auffordert es zu berühren und eine Nachricht für den Besitzer Mjolnir Welinder, offline, zu hinterlassen. Ich klicke es mit der Maus an und es wird zur Explosionszeichnung. Wie ich hier etwas hinterlassen soll, finde ich nicht heraus. Da hat sich wohl einer Land in der Luft gekauft. So eine Art Briefkastenfirma.
Diese Welt erscheint mir völlig unzugänglich. Ich werde frustriert und trotzig. Dann bring ich mich jetzt doch mal um! Laufe zum Rand, zuerst bei den Zäunen, die mich retten. Doch der wahre Suizidant ist nicht aufzuhalten. An der freien Seite schaffe ich es und knalle nach einem trudelnden Flug unsanft auf den Boden. Theatralisches Aufrappeln und weiter geht’s! Ich fliege ziellos in die Wüste hinein, auf einmal werde ich gestoppt, von Nichts- In dem »Nichts« leuchten rote Wortbänder »no entry«. Es ist dunkel. Ich bin der geheimen Kommandozentrale auf der Spur.
Es gibt also verbotenes Land in diesem angeblich so freien Land. Meine besten Vorurteile werden bestätigt. Ich mache wieder ein paar Fotos und untersuche aus Langeweile was denn das Menü noch hergibt. Es gibt die Funktion »undress«, nach und nach entledige ich mich aller Klamotten. Jetzt fliege ich nackt. Ob ich wohl einen Schwanz habe? Ob das hier wohl verboten ist, wie in der U-Bahn? Von hinten kann ich Eier erahnen. Ich fliege schnell vorwärts und stoppe dann und drehe mich gleichzeitig. Ich kann einen Blick zwischen meine Beine erhaschen.
Dort ist nichts. Wie bei der Ken-Puppe von Mattell. Auf einem Gebäude steht »think cube«. Ich fliege hin und mache ein paar Fotos.
Hin und wieder fliege ich – mal mutwillig, mal aus Versehen – gegen die roten Begrenzungswortbänder. Im Chatfenster schreibt eine Instanz (Copybot Security System): »quit!«. Verschwinde! Ist das jetzt die Nudistenpolizei oder der Wachdienst der geheimen Kommandozentrale? Ist schon etwas unheimlich. Trotzig und nackig fliege ich weiter umher.
Die Wüstenstadt ist öde und so mein Tun. Nebenher läuft mein Emailprogramm und informiert mich über neue Nachrichten. Das tut es auch während des „Spiels“. Der Infoton verheißt eine neue Nachricht. Auch sie ist von Copybot secure system. Ich lese sie. Sie lautet “quit!“. Meine Paranoia nimmt Gestalt an – die zweite Welt hat sich in meine Erste Welt geschlichen. Der Einbruch des Spiels in meine private Realität. Ein Jemand will „wirklich“ dass ich verschwinde. Was ist „wirklich“, meine Email-Adresse? Meine Ateliertür? Mein DSL-Anschluß? Meine Datenrate? Meine rechte Hand? Mein linker Fuss? Meine Emailadresse ist etwas persönliches und jetzt kann irgendein zweitewelt-Nazi mir etwas dorthin schicken. Die Nachricht ist mit dem Zusatz versehen, dass ich die Funktion, dass man mir Nachrichten an meine Email schicken kann »disablen« kann. Disability, Behinderung, ich habe den Bogen für heute gefunden. Langsam habe ich genug. Viertel vor zwölf. Ich habe wieder keinen Wecker vor Beginn der Reise gestellt. Das muss ich ändern. Die Texte werden zu lang. Ich muss eines zugeben, ich zog mich irgendwann zwischendurch wieder an. Wenn ich mich schon nicht traue, bis zum nächsten Login nackt rumzustehen, wie soll das erst mit dem Betteln auf dem Rollbrett werden. Dabei fand ich im Menü die »create your avatar« Funktion. Man kann die Dicke, Länge und Form verschiedener Körperteile verändern. Ich machte mir Riesenplattfüsse und einen unförmigen Arsch. Asymetrie ist hier jedoch nicht möglich und auch ein spastischer Knick am Handgelenk lässt sich nicht erzeugen.
moin chrisdian, danke für den selbstversuch. erspart mir nerven, einen eigenen avatar anzulegen. ich glaube nicht an die freiheit in der welt von second life - da ziehe ich mir doch lieber gleich die hose aus und stelle mich an mein fenster zum kiez. bis auf ein paar dorsche touris wird sich das feedback wohl in grenzen halten - aber das ist ja eigentlich auch ganz normal so. c´est la vie. tran