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21. November 2007

Zaungastieren

von Jorn Ebner
ZaungastDie Wohnung liegt im elften Stock an der nordöstlichen Ecke des Wohnturms. Der Balkon ist mit einem Netz verhangen, dass keine Vögel sich darauf verirren können. Aus dem Aufzug gestiegen, durchquere ich zwei Glastüren, schließe die Wohnungstür hinter mir und bin auf meiner Ecke abgetrennt vom Rest der Welt. Hier kommt keiner hin, hier gibt es nur den Blick auf ein Stück Bahntrasse der Strecke London- Edinburgh und das ausgedehnte Feld einstöckiger, vorstädtischer, einförmiger Familienhäuser. Irgendwo in der Distanz noch das Fußballstadion, Hafenkräne und der Himmel.



Unten liegt das Land, an dem man teilhat, in dem man vor Autos wegspringt, und dessen Zeitungen man überfliegt. Es liegt so da, dass man sich an dessen gesellschaftlichem Leben ergötzen kann, aber von den politischen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen bleibt. Ganz oben im elften Stock ist der Überblick besonders gut, der Makroblick hingegen kommt abhanden: das Detail verliert sich in der Weite.

Zaungast zu sein in einem anderen Land hat ein Privileg: Ohne jede direkte Verantwortung für die Geschehnisse dort unten, kann man sich über alles echauffieren, was auf den Zeiger geht. Das Randdasein erleichtert die Kritik.
Zaungast ZweiAuf einem Flug von Stansted nach Berlin saß ich neben einer englischen Opernsängerin. Die Frau überlegte sich, von ihrem Metier in die Videoschnittstuben zu wechseln und hatte sich zu diesem Zweck schon bei einer Hochschule in Prag beworben. Letzteres gab sie dann aber doch auf, nachdem sie in Wien und Hamburg bei neuen Agenten vorstellig wurde. Sie tat sich dann in Berlin um, einer Stadt, die den finanzgebeutelten Engländern erstmal paradiesisch erscheint. Wohnungen sind für wenig Geld zu kaufen. Hohe Lebensqualität zu niedrigem Preis. Nach einigem Hinundhergefliege mietete sich die Sängerin über eine Mitwohnzentrale bei einer Frau an der Friedrichstraße ein und begann Berlin zu inhalieren.

Das bekam ihr nicht gut; nach zwei Monaten bewohnte sie wieder ihr englisches Eigenheim bei London. Trotz des augenscheinlich attraktiven Kulturumfeldes fühlte sich die Frau unwohl. Keine rechten Freundschaften ließen sich schließen, die Deutschen kamen ihr verschlossen und sperrig vor. Sie erlaubten zwar den Umgang, mehr aber auch nicht. Den einzigen Freund – einen deutschen Schauspieler mit filmemacherischen Ambitionen – verlor sie bald durch einen nichtigen Streit und ihre Vermieterin entpuppte sich als mülltrennerische Pedantin. Nach der ersten unabgewaschenen Konservendose, die nicht im Gelben Sack verschwand, gab es Alarm. Für die recycling-unerfahrene Britin ein kleiner Kulturschock, der sich zu einer ausgewachsenen Unerträglichkeit entwickelte.
ZaungastspielIn der Politik wird zum Zwecke der Arbeitssuche gerne der trans-europäische Wohnungswechsel angeregt. Für die Kunst wird dann noch einer drauf gesetzt: man könne als Künstler ohnehin überall zu Hause sein. Grober Unfug, der durch die neu-medialen Verknüpfungen, häufiger aufs Tapet gebracht wird: die Hochschulabsolventin, die sich erstmal für unbestimmte Zeit auf Elba einnistet, hat sicherlich beste Aussichten auf eine erfolgreiche Künstlerinnenzukunft.

Aber das Gastspiel als periphere Person kann einen Startvorteil bringen: die Gastgeber recken sich die Hälse, um mal zu sehen, wer da sein Gefieder putzt und was so in den Büschen singt – jedenfalls, wenn der Besuch mit Rückendeckung stattfindet. Taucht die Kunst einfach so auf, ohne dass irgend jemand sie auf Worte stützend begleitet, bleibt die Ausstellung unbesucht. Alter Hut. Im Regelfall muss der Gastauftritt langlebiger sein, Zeit investiert werden und die Besucherexistenz mit den besuchten Gegebenheiten ringen, während die Kunst permanent ihre Lieder singt.

Das Ringen und Singen von Leben und Kunst ist natürlich nicht auf den Zaungast beschränkt. Auch jene, die in ihren gewohnten Lebensumfeldern verharren, plagen sich mit den alltäglichen Widrigkeiten. Deshalb pochen sie auf das Recht der Einheimischen, auf alles, was vor der Ankunft des Zaungastes bestand, einen erhöhten, naturgegebenen Anspruch zu haben. Die Zugezogene muss sich ihr Recht auf sozialen Zugriff erarbeiten – aber nicht selten wird auch dann ihr gesellschaftlicher Platz an den Rand gelegt.
Zaungastspiel ZweiDer flexible Lebensort ist eine freiheit-inspirierende Losung in Zeiten digitaler Kunstwelten. Dabei richtet sich der Aufruf zu immer mehr vernetzter Mobilität nicht an den Lebensort. Die räumliche Zuordnung einer menschlichen Existenz zu nationaler, regionaler oder familiärer Herkunft wird ironischerweise nicht in Frage gestellt und gilt weiterhin als natürliche Legitimation. Die Netzmobilität basiert auf einer statischen Existenz, die sich immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückbewegt. Eigentlich soll sie diesen ja gar nicht verlassen. Eine Flucht an den Feldrand, um dort zu zaungastieren, ist ein möglicher Versuch, sich dem statischen Denken zu verweigern. Derweil erlaubt es die digitale Verknüpfung, den Bruch mit dem Vorherigen nicht endgültig vollziehen zu müssen – gleichzeitig kann auch das Herkunftsland den Flüchtigen weiterbinden, ohne auf dessen Anwesenheit zu pochen. Die alte Verbindung bleibt bestehen.

Vom elften Stock aus lassen sich im Browser die Aktivitäten im Herkunftsland beobachten, wo ein nationalsozialistisches Propaganda-Bauwerk wie das Berliner Olympiastadion von den Betreibern als „solide Architektur” gefeiert wird und wo Feudalschloss-Neubauten als modern gelten. Dadurch wird der Unterschied im Verhältnis von Herkunftsort zu Wohnort marginal: Zwar kann sich online der Makroblick schärfen, doch auch der verliert sich in der flachen Weite der Bilmschirme. Schließlich werden beide Existenzbezugspunkte zur Peripherie, an den einen (der Herkunftsgesellschaft) angekettet per Reisepass und Meldebestätigung, an den anderen (der Wohnortsgesellschaft) gebunden durch ökonomische Erwägungen. Der gewählte Wohnort bleibt durch die Ausgrenzung aus politischer Mitbestimmung fern; der Herkunftsort entfernt sich durch die mangelnde Teilhabe am gesellschaftspolitisch relevanten Gespräch; gesellschaftliche Mitrede muss aktiv gesucht werden.
ZaunkönigKunst ist gesellschaftliches Mitreden, das von unvorhersehbarem Ort erklingt und deshalb gesellschaftlich an den Rand positioniert wird; Zaungast des gesellschaftlichen Diskurses aber zugleich Ehrengast, weil die Beiträge als ausgezeichnet empfunden werden. Gleichzeitig kann sich die Kunst auf die Randposition zurückziehen, sobald die königliche Rolle ungemütlich wird. Es ist eine bewegliche Kreatur; Kunst ist Zaunkönig.



Das Kunstwerk als Zaunkönig steht in Gegensatz zum Kunstwerk als Aquariumsfisch. Letzteres hat die Rolle des schillernden Schaustücks, das sich in einem zugewiesenen Behältnis bewegt, aus dem es nicht entkommen kann (und vielleicht auch nicht entkommen will) und darin bleibt, bis es stirbt oder in ein anderes Behältnis gesteckt wird. Das Kunstwerk als Zaunkönig ist flexibler: Es kann verschiedene Habitate bewohnen und es muss nicht sichtbar sein, allerdings ist seine Präsenz gegenwärtig durch permanenten Gesang. Diese Kunst schafft immer neue räumliche Bezugspunkte, sie singt mit und ist ein Bestandteil des Alltags, sie belebt unsere Welt zu ebener Erde.

Und im elften Stock – denn, wenn ich dort die Fenster öffne, erklingen nicht nur die Gesänge der Eisenbahnen, sondern auch die Vogellaute, und lassen mich schmerzhaft meine Existenz in genau jenem Augenblick erfahren. Hier ruht der Zaungast.

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