StammzeIlen

von Claudia Reiche

StammzeIlen ≈ Stammzeilen
Der erfundene Suchbegriff Stammzeilen führt zu Webseiten, die von Stammzellen handeln. Die abweichende Schreibung ist im Schriftbild oft nicht zu sehen, wenn das I als Majuskel eingesetzt wurde. Es ist so zu erfahren: Als StammzeIlen werden ZeIlen bezeichnet, die in der Lage sind bei ihrer Reproduktion verschiedene Formen und Funktionen auszubilden. Es ist noch nicht ganz erforscht, wie sie dazu fähig sind.
Prototypisiernd biete ich drei entsprechende StammzeIlen an: kurze Textstücke, die sowohl in sich abgeschlossen sind als sie auch bei konsequenter Anwendung ihres Verfahrens zu umfangreicheren Gebilden anwachsen und sich in Genre und Medium spezialisieren können: einen Aufsatz, einen Roman, einen Film …
Wer hat Interesse an der Weiterentwicklung dieser StammzeIlen? Bitte Kommentare, Texte, Bilder, weiterführende Ideen, Angebote für Zusammenarbeit, Bestellungen für ein Drehbuch und ähnliches senden an: office at claudia-reiche.net




 
 
StammzeIle 1
Dionysos: anonymous
Es gibt immer eine Bibliothek. So wie in den wiederkehrenden Träumen die Besuche dort enden, wo ein schon gefundenes Buch noch nicht gelesen werden kann. Das letzte Buch, das mir so im Erwachen in die Hände fiel, war in der Bibliothek falsch platziert, unter D wie Dionysos. Darum haben viele es nicht finden können! Doch was nützt der Fund?

Das Buch, soviel stand fest, hätte an den Anfang der Bibliothek gehört, zu A, anonymous, denn wir befinden uns in einer Bibliothek der Vereinigten Staaten. Wie nicht anders zu erwarten, geht es um ein Pantheon, in Proportionen, die nur Gewöhnlichkeit sich je erdenken kann. Die zugrunde liegende Idee des Kreises teilt sich selbst dem verschlossensten Gemüt mit. Ein Eingang, der auch Ausgang ist, Fenster sucht man in der umlaufenden Wand vergebens. Aus der Mitte der enormen Kuppel fällt wechselnd ein Lichtkegel ein, auch Niederschläge und öliger Staub sammeln sich über die Jahre. Mit einem inneren Kranz schlanker weißer Säulen kommt Zartheit im Halbdunkel hinzu, wie sie einsame Hinterwäldler erbaut.

So hat sich, umgeben von den nicht tragenden Attrappen, mitten auf der dunkelblauen Auslegeware mit den endlosen Monogrammreihen NAT, abdichtend verklebt, eine Pfütze gebildet, deren weiche Ränder nur tappend zu bestimmen sind. An einigen Stellen scheint die Pfütze schon die Basis der Säulen umflossen zu haben, sogar bis an die Wand herangesaugt worden zu sein. Ringsum auf Wandabschnitten befinden sich abwechselnd Fresken in einem Stil, der wohl auf den ersten Blick als kolonial zu bezeichnen wäre, und schmale Segmente eng gestopfter Bücher mit ledernen Rücken. Die Bücher, scheint’s, dienen zugleich als Wand. Winzige Unebenheiten lassen hier und da ein wenig durchleuchten. Sie sind in ihren beträchtlichen Aufstapelungen alphabetisch geordnet, in zeilenweiser Anordnung von links nach rechts. So endet ein Segment mit einem Buchstaben rechts unten, um dann im nächsten die Folge der Bücher links oben unter dem gleichen Buchstaben wieder aufzunehmen. Wie die Buchfolge genauer reguliert wäre, erschließt sich nicht unmittelbar, ebenfalls nicht, wo Platz für mögliche neue Bücher wäre. Die einzelnen Buchsegmente in ihrer ganzen Höhe sind über rund geführte Leitern zugänglich, die auf einem inneren Ring unter der Kuppel beweglich befestigt sind.

Einer sich gegenseitig stützenden und verdichtenden Enge ist es wohl zu verdanken, dass die mürben Bücher noch nicht zerfallen sind. Die Fresken dagegen blättern großartig ab: Unter den Masken von Präsidenten tanzen Cowboys mit bärenzottigen Chaps, Arm in Arm mit Niggers und Clowns, die sich fast schon als salpetrig aufgesprungenen Pigmentflecken zeigen. Einige Fehlstellen reizen das Auge zum raschen Überspringen. Weiter gibt es Bisons mit den tieftraurigen Augen von Königskindern unter gekreuzten Speeren, bis an die rosige Linie des Horizonts, seitlich gefasst in Reihen dampfender Loks und wertvoller historischer Schnapsflaschen. Überhaupt sind Klagen über eine gekünstelte Arroganz der ganzen Anlage nicht eben häufig. Sie wird gern als volkstümlich gelobt. Einzelne Besucher der Bibliothek, sobald sie zu einer der beweglichen Leitern gelangen und sich suchend an den Lettern orientieren, können sich manches Mal kaum losreißen: Einige Bilder ziehen noch kurz wie eine drehende Trommel in ihnen vorüber. „Hyle Liber“ ist zur Orientierung an jeder der Leitern vermerkt, die aus glattem, hartem Holz bestehen. Viele urinieren jetzt in heißem, plötzlichen Erinnern. Ein Blitz.

Ich, Dionysos, anonymous, der weibliche, zwei mal geboren und so oft ertrunken, wie es keine Zähler mehr berechnen werden, zerstückelt, gefressen und zurück ins Leben geworfen, tauche in die bodenlose See, meine Mutter heraufzuholen aus dem Hades, damit sie mit mir steige auf den Olymp. Es gibt immer eine, am Ende nicht…


 
StammzeIle 2
Kunstverein
Es ist, als wäre an unserem Verein, der immerhin fast der älteste deutsche Kunstverein ist, etwas zu erahnen, das auf lang dauernde und planmäßige Verwahrlosung schließen lässt, auf eine sorgfältige Verschleppung von Fragen, ein Übergehen von schon halb erstickten Bemerkungen, die allerdings auch andernorts wenig Gehör gefunden zu haben scheinen. Und, wen wundert’s, der Laden läuft. „Nur wer das Neueste als Gleiches erkennt, dient dem, was verschieden wäre.“ Das sagt mir traurig meine Bubikopf-Nichte und meint damit, dass das ‚Verschiedene’ allemal das Bessere wäre. Von der Neuen Zeit, ja, da dröhnen mir die Ohren. Von der Erneuerung der Kultur zu neuer Freiheit, Größe und Würde. Als wäre man vorher würdelos und klein gewesen. Aber das ist es ja gerade. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall,“ hieß das zu meiner Zeit noch im Märchen. Ich habe das immer bezweifelt, denn sterben müssen die Königssöhne sogar im Märchen. „Wenn sie nicht gestorben sind,...“ Ja wenn. Es geht immer um das ‚Wenn’.

„Die Liebe zur Kunst zu fördern“ – von dieser leicht gesagten, doch im Wortsinn unerfüllbaren Aufgabe, als erster Vorsitzender auch nur annähernd in Dienst genommen zu sein, ist eine Last, deren Gewicht sich mit zunehmendem Alter kaum mehr verbergen lässt. Eine alte Wette, mit der riskanten Liebesformel auf deren Missbrauch abgeschlossen, hat sich inzwischen zu erfüllen begonnen. Zug um Zug, als wäre es schon immer so gewesen. Das erstaunte, dann rasch ermattete Entsetzen zeigt dies an, als würde einer beim zufälligen Blick auf die Uhr sich der längst vergangenen Stunde klar.

Wie Sand und Staub im Hosenaufschlag, nistete einst die erfahrene Glaubwürdigkeit am Leib, doch nun rieselt es allerorten klumpig heraus und die Mode verzichtet mehr und mehr auf diese vorgezogene Bordüre. Sollen wir also gleich wie die Zeitungsjungen mit blanken Knien gehen? Und die Taschen umkehren zum Beweis, dass wir nichts entwendet haben, was uns nicht zustünde – nicht einmal die Geister der Toten, auf die nun das Volk Anspruch erhebt?
So weit kommt es noch, dass wir das tote Gehirn unserer Vorgänger verspeisen müssten, ganz wie es der letzte Südsee-Film von Dr. Notze zeigte, seine Expedition zu den Menschenfressern. Liebe, Ehre und Kultur … Eine Schande ist das. So oder so.


 
StammzeIle 3
Multitaskforcing
Ich soll nicht soviel duschen. Aber dieser Geruch nach gekochten Innereien aus dem Tierfutterladen im Erdgeschoß, wie ein Feudel in Bouillon getaucht, der einem ins Gesicht geschlappt wird. Was tun die da bloß rein? Und dann im US-Drillrhythmus, zack, die Stimme von Christina Aguilera, die mit Candy Man auserwählt war, stahlhart in meine Aufwachphase zu schneiden. Mitten im Stück, Angewestes und Hochtöner. And down she fell, sweet, sugar, candy man. Ein Open-Air Auftritt in Mexiko City vor Hunderttausenden. Das ist es nicht ganz, aber wir nähern uns in St. Pauli doch so gut wir können. Standort Hamburg, das macht zwei bis drei Millionen Besucher, die die sündige Meile jährlich passieren, würdevoll videoüberwacht. Neuerdings mehr englische Touristen, die mit Billigflügen rüber kommen für Junggesellenabschiede, Alkohol ist billig hier. Gern ist da mal einer mit bös verschmiertem Lippenstift und Leggins als Frau zurecht gemacht. Dass nur die Braut das bloß nicht sieht! Dieser entschlossen hochgerissene Regler zur Hofbeschallung… Das kommt doch wohl nicht von dem neuen Latino-Laden nebenan? Caipi to go steht bei denen handgeschrieben auf der Fensterscheibe – sehr slack, ethno und urban. Nicht Candy Man, Candy Man in mächtig stampfenden, synthetischen Retro-Chic. World War Two, du braves Luder, anyway! Und in Mexiko, das war doch sowieso die andere, die Passionsfrau mit den Hüften, die nicht lügen. Shake it, shake it, Amen, Shakira. So ist das. Das sitzt natürlich tiefer, den Nerv getroffen mit international emoción. Pappbecher landen schon mal auf dem Balkon, zehn Meter über dem Hamburger Berg, hingeschmissen samt klebendem Limonenrest. Da las ich dann Cogi to go auf dem ungewohnten Fundstück in krakeligem Aufdruck. Kann man wieder unterm Geländer durchschieben, hast du nicht gesehen, ego sum, fort und da. Caipirinha ergo sum, ist ja schon gut. Shhhh, shhhh. Hier geht’s immer hoch her. Die Straßenreinigungskolonnen kehren zweimal täglich mit den wendigen, warnblinkenden, brausenden Geschossen. Kein Wunder, dass die Leute in den Hauseingängen schlafen. Fernster zu und erstmal Zähneputzen. Warum kann man das nicht schon auf dem Klo tun? Weil man gerade eine SMS bekommen hat und vorhin auch schon eine. ‚Ihr aktueller Punktestand beträgt 302 Punkte.’ Ihr könnt mich mal. ‚Congratulations, Sie haben gewonnen.’ Danke und delete. Mein Display ist zerkratzt, ich muss den Knopf von der Hose wieder annähen, ist ja fürchterlich. Wasserkocher an und duschen. Ich putze mir die Zähne gern unter der Dusche. Erst mochte ich das nicht, hab es aber doch meiner Freundin abgeschaut. So geht das länger, bis die Zähne sich mal glatt anfühlen. Ist so. ‚Simultan reden, zuhören, gleichzeitig noch ein Auge auf die spielenden Kinder haben und den Film im Fernsehen verfolgen – dazu sind wohl nur Frauen fähig.’ Aha. Da ist es doch wieder, dieses kleine japsende Kläffen, regelmäßig und schnell. Ist es nun ein nervöses Hündchen oder eine beflissene Heschna? Hetera-Schnepfe, oder heißt es Schnitte? Ist sowieso ein blödes Wort. Hunde bellen eigentlich länger und fordernder. Ob die jetzt einen Höhepunkt hat? Tja. Man gewöhnt sich wohl an alles. Ich putze weiter, irgendwie im eigenen Mund verlaufen. Die kenne ich aber nicht, oder? War ich rechts unten außen schon? ‚Multi-Tasking nennt man diese Fähigkeit. Beobachten Sie einen Mann und eine Frau: Männer bleiben vor dem Waschbecken und bewegen die Zahnbürste in ihrem Mund. Frauen wischen gleichzeitig die Regale aus, füllen die Waschmaschine mit den dreckigen Handtüchern, checken den Vorrat an Duschgel und blättern nebenbei in einer Zeitschrift.’ Der Bayerische Rundfunk bringt so was als RSS? Es klingelt. Typisch. Frau. Ich spucke aus, rufe: ‚Komme schon!’, schalte das Wasser ab und greife nach dem Mantel: ‚Wer ist denn da?’ Spucke nochmals aus und höre eine fremde Stimme: ‚Ist da!’ Hoffentlich habe ich mich verhört.

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