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21. Juli 2008

Schonzeit vor der großen Abschöpfung

von Ulrich Mattes

2 Hochsitze im (vorläufig noch) befriedeten Raum

Jeden Mittwoch im August jeweils ab 18 Uhr sollen die bekanntermaßen maulfaulen Hanseat/innen und ihre Mitbürger/innen in Kanzelreden kund tun, "was Sie auf dem Herzen haben". Megaphone sind vorhanden und die beiden Hochsitze, die sich zwischen Blinzelbar und petit casino diagonal gegenüberstehen, dienen als Plattformen (Eltern haften für ihre Kinder).

Die Hochsitze sollen als Störfelder gesehen werden und unsere aufwändig abgesicherte Wirklichkeit für eine gewisse Zeit verunsichern und de-konstruieren.

Diese Verunsicherung ermöglicht uns einen Blick in den topographischen Raum, bevor die Sehgewohnheit die abgesicherte Wirklichkeit wieder herstellt.
[1]

Speakers' corner in der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona? Ob sich die Protagonist/innen hiesiger Anglophilie soweit aus der Kanzel lehnen, das weltbekannte Modell am Londoner Hyde Park zur öffentlichen Ventilation aufgestauter Welten auch in der Hansestadt zu etablieren? Einladungen jedenfalls ergingen auch an alle politischen Parteien, ein Aufruf, das persönliche Engagement in Sachen "Sendungsbewußtsein" jenseits des Fraktionszwangs und der Seilschaftswirtschaft einmal direkt an die Wähler/innen zu tragen und auf Glaubwürdigkeit hin in Augenschein nehmen zu lassen. Doch dass wie in speakers’ corner Visionäre wie Karl Marx, Lenin oder George Orwell das Wort ergreifen, steht sicherlich nicht zu hoffen.

An der Stelle der heutigen speakers' corner am Marble Arche in London wurde, einer seit dem Jahr 1196 etablierten Exekutionstradition folgend, 1571 der Tyburn Tree errichtet, die Galgen von Tyburn zur Institution erhoben. Den Abzuurteilenden räumte man ein, vor ihrem finalen Atemzug ein letztes Wort zu ergreifen. In Folge der public riots im Hyde Park 1855 etablierte sich dann die Tradition öffentlicher Versammlungen, reglementiert durch den Parks Regulation Act 1872. Schon damals ging es also um die entscheidende Frage: Wem gehört die Stadt?


Aber zurück nach Altona:

Der Hochsitz des Jägers hat hier nichts verloren. Für den Jäger ist die Stadt ein befriedeter Raum. [...] Der Begriff der Befriedung ist, was den Jäger angeht, ein rechtlicher. Als soziologischer Begriff ist die Bedeutung ähnlich, nur aus einer anderen Perspektive betrachtet.

In diesem Sinne ist die Stadt für uns befriedet, da der Jäger hier nicht jagen darf. Wir können also davon ausgehen, in der Stadt nicht einem Jagdunfall zum Opfer zu fallen.

Ein Sommer des letzten Aufbegehrens vor der endgültigen "Hinrichtung" der "Schandflecke" Forum und Frappant, den ehemaligen Musterbauten auf der einstigen Vorzeigemeile im Herzen Altonas? Jahrelanges Ringen um die Zukunft des Quartiers ging mit dem stellvertretenden Protest der Künstler/innenschaft gegen Gentrifizierung in eine neue Phase der Auseinandersetzung (vgl. "Endziel Ankermieter" von Oliver Twickel, November 2006) und die Vorschläge zum Thema "Die Miete drück ich mir jetzt selber" können locker hierher transponiert werden.


Das "Anblasen" als mp3 anhören

Mit der Metapher "Schonzeit", angeblasen durch Hannes Wienert beginnt auch eine Serie von Veranstaltungen, die Judith Haman (Künstlerin, Blinzelbar) und Oliver Zorn (ansässiger Architekt) nun initiiert haben. Zum Auftakt am 17. Juli erstellen die beiden eine Kreide-Umfriedung um die Hochsitze, die auch die potentiellen Opfer der Hamburger Abrisspolitik nicht vergisst. Gianna Schade zeigt Fotos zum Thema "Feld und Flur", Ralf Jurszo folgt der Einladung, eine weitere Serie seiner (leuchtfarb)hintergründigen Landschaftsmalereien aus Wald und Brache zu präsentieren und Cläre Caspar trägt "Die Bürgschaft" von Schiller vor. Gerade dieser Vortrag appelliert an die Herzen der Hanseatischen Großfürstlichkeit, die Pflänzchen eines kulturellen Eigenlebens, die sich in der Altstadtbrache inzwischen eingenistet haben, nicht einfach für die eigenen Interessen und an den gewachsenen Strukturen vorbei abzuschöpfen, sondern auch nach der Schonzeit die kleinteilige Entwicklung weiter zu fördern und nicht mit einem großen Investorenwurf alles wieder platt zu machen. Die ansässigen Künstler/innen haben mit viel Engagement für diese Brache-Entwicklung gebürgt. Da ist die Stadt gut beraten Urheberschaften zu bekennen:

"So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte!"


Der Begriff der Befriedung lässt sich hier aus der Sicht des Risikos betrachten.
Das Risiko ist ein Zugang zur Bewegung der Gesellschaft, zu den Reaktionen verschiedener Teilchen aufeinander, in denen ich immer gleichzeitig beteiligt und unbeteiligt bin.

Der Glaube an die individuelle Situation, an die Willensfreiheit macht die Wahrscheinlichkeit des Risikos unsichtbar. Er suggeriert uns, die riskanten Ereignisse seien auf andere bezogen notwendig, auf mich bezogen zufällig.



Im Innenraum fühlte sich dann eine spontan gebildete Sängergruppe angeregt, aus einem Büchlein für Jagdlieder "Ein Jäger aus Kurpfalz" und "Am Brunnen vor dem Tore" anzustimmen, nachdem ihnen Hannes Wienert zuvor vom Hochsitz aus Beispiel gegeben hatte. Bleibt aber anzumerken, dass das deutsche Liedgut sich in einer verheerenden Intonationsverfassung präsentierte, was dem Applaus aber keinen Abbruch tat.



Das waidmännische Liedgut als mp3 anhören


Die Installation gleich zweier Hochsitze fördert die Performance von Rede und Gegenrede, die ihr humoristisches Element daraus beziehen könnte, dass bislang nur eine Leiter verfügbar ist. Durch die publikumseitige Entfernung der Leiter könnte so manches Anliegen ungewollt in die Verlängerung gezwungen werden, eine ganz neue Form, Antworten zu erzwingen, oder einfach eine Zugabe einzufordern. Auch die Aufforderung einiger der Gebrechlichkeit anheim gefallenen, doch Hilfestellung beim Erklimmen und Verlassen des Podiums zu leisten, könnte kurzzeitig zu vergessen geglaubten Szenen der Brüderlichkeit führen.

Da keiner dem Raum entkommen kann, braucht er ein Stück des Raumes für sich. Und das muß er besetzen und grenzt sich damit gegen den anderen ab.

Für Trockenübungen zuhause hat Oliver Zorn eine kleine Auflage Hochsitze im Modellformat hergestellt (28,- €, erhältlich in der Blinzelbar).


Nun gilt es noch, den weiteren Verlauf der Schonzeit im August zu erwähnen:
Am zweiten wird die russische Theaterschule mit Rimma Chivaeba um 16 Uhr verstecken spielen.
Am neunten lädt Ralf Jurszo bei Hasenbroten und Getränken zu Filmen für Jäger und Gejagte.
Am dreiundzwanzigsten ab 20 Uhr blasen Helmut Neuman & Hannes Wienert Hegerufe und Halali auf Jagdhorn, Waldhorn, Alphorn und Trompete mit Schüsseltreiben und anschließendem Ausgeheck und Texten zum Jägerbrauchtum. Der Harburger Maler und Schriftsteller Heino Jaeger präsentiert postum "über das Trenzen, Orgeln, Knärren, Glucksen und Blühen". Reproduktiv sind Jagdbilder von Uccello, Breughel, Bosch und anderen plakatiert und vor dem Buffett aus Jägerpastete auf Preiselbeermus und Tofupilzbebackenem lauert erneut Hannes Wienert mit dem Kurzvortrag "Wie nimmt das Wild wahr".
Am achtundzwanzigsten um 21 Uhr behaupten Melanie Mehring, Birgit Kiupel und Wiebke Johannsen "Ich lärme, also bin ich".

Im Ferienprogramm für Kinder entstehen Montags 15 - 18 Uhr und Dienstags 10 - 13 Uhr Straßenbilder zwischen den Hochsitzen und pappene Tiere des Waldes.

Kanzelreden finden Mittwoch 6.8., 13.8., 20.8., 27.8. jeweils 18 -20 Uhr statt, arbeiten auch Sie schon jetzt an Ihren Manuskripten!




[1] Zitate aus dem Vortrag von Oliver Zorn, und wer es genau wissen will findet hier die Begrüßung durch Judith Haman und dort die ganze Rede von Oliver Zorn.

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