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25. November 2006

Endziel Ankermieter – eine Brache wird fertiggemacht.

Kunst, Kommerz und Schandfleck-Beseitigung in der Großen Bergstraße

von Christoph Twickel

Eines Tages stand Inés aus Santiago de Cuba vor der Tür unserer elbnahen Zweier-WG. Inés war eine entfernte Bekannte meines Mitbewohners. Sie hatte zu seligen DDR-Zeiten einmal vier Jahre lang im Rahmen der kubanisch-deutschen Völkerfreundschaft in einem volkseigenen Betrieb in der Kleinstadt Schmalkalden gearbeitet. So gerne würde sie ihre alten Freunde in der ehemaligen DDR wieder sehen, hatte Inés auf Kuba meinem Mitbewohner versichert, welcher ihr daraufhin ein Einladungsschreiben verfasst hatte, ohne welches sie kein Touristenvisum bekommen hätte. Einmal in Hamburg angekommen, stand ihr der Sinn keineswegs mehr nach einem Besuch in der beschaulichen Fachwerkstadt am Rande des thüringischen Waldes. Sie blieb bei uns und ließ nichts unversucht, ihrem Aufenthalt einen möglichst hohen Nutzwert abzuringen. Wir schenkten ihr alte Klamotten und Schallplatten, die sie auf Flohmärkten versetzte. Um möglichst viele Konsumgüter mit zurück in ihre karibische Heimat nehmen zu können, lebte sie konsequent nach dem Motto „Geiz ist geil“.
Große Bergstraße, 24.12.2005, "Styro-Sofa". Ausschnitt aus dem Projekt „Public Spaces- Private Places. Eine aktive Untersuchung sozialer Praxis“ von Sacha Essayie

Inés’ lebensweltlicher Mittelpunkt wurde die Große Bergstraße. Hier fand sie das billigste Internet-Café, die günstigsten Hähnchenbeine und vor allem: Modische Slips, Sonnenbrillen, Hot Pants und T-Shirts zu Preisen ab 1 Euro. Als sie uns nach drei Monaten verließ, trug sie sieben Röcke und fünf Sweatshirts übereinander und zog zwei prallgefüllte Koffer hinter sich her, deren Inhalt sie samt und sonders aus den Resterampen und 1-Euro-Shops von Altona-Altstadt bezogen hatte. Unseren Tiraden über Neoliberalismus zum Trotz hatte sie sich ihre eigene Theorie über die markwirtschaftliche Konsumwelt geschmiedet. „Im Kapitalismus“, pflegte sie zu sagen, „gibt es zwar sehr teure Geschäfte, aber eben auch sehr billige.“

Bergab-Rhetorik: Kein Fußbreit den Kaufkraftlosen

Die Vorliebe von Inés für die Große Bergstraße dürfte bei Hamburgs Stadtplanern auf wenig Verständnis treffen. In einer „vorbereitenden Untersuchung zur städtebaulichen Sanierung“ aus dem Jahre 2004 lässt das von der Stadtentwicklungsbehörde beauftragte Forschungsinstitut GEWOS kaum ein gutes Haar an der Fußgängerzone mit dem Frappant-Gebäude, in dem einstmals Karstadt residierte. Für die Experten fehlt es den „Grün- und Freiflächen“ an „Aufenthaltsqualität“. Hier kommen ihnen Bereiche „unbelebt und ungastlich“ vor, dort „wirkt die Bebauung ungeordnet und wenig attraktiv“, und so geht es in einem fort. Ein Foto von einem überfüllten Altpapiercontainer belegt, dass „die Vermüllung im Untersuchungsgebiet“ zum „negativen Gesamteindruck“ beiträgt. Ein anderes Bild zeigt die rissige Rampe zum Parkhaus des Frappant-Komplexes – es trägt die Bildunterschrift „unattraktives Parkplatzangebot“. Insgesamt ergibt die Analyse, „dass das Untersuchungsgebiet derzeit nicht mehr die Funktion eines Bezirkszentrums sowie eines wichtigen Zentrums für das öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben einnimmt“.
Wer an einem sonnigen Herbstsonnabend zwischen Frappant-Komplex und Max-Brauer-Allee flaniert, muss sich fragen, wo sich die Stadtforscher von GEWOS herumgetrieben haben. Die Stühle vor Dat Backhus in der Fußgängerzone sind vollbesetzt, in den 1-Euro-Shops drängeln sich die Menschen, der Wochenmarkt ist bestens frequentiert, und in den Sonderangeboten vor Woolworth wird eifrig herumgewühlt. Kein öffentliches Leben in der Bergstraße? Selbst an einem ganz normalen Werktag ist hier mehr los als in so mancher Barmbeker Einkaufstraße: Vor der Eisdiele Filippi sitzen Hausfrauen beim Eiskaffee, türkische Kids spielen Fußball in der Fußgängerzone und vor Plus singen ein paar Asi-Punks fröhliche Lieder. Was muss in einem „Bezirkszentrum“ stattfinden, damit es in den Augen von Stadtplanern Gnade findet? Wie steht es eigentlich um das Leben in der Mönckebergstraße? Ist das Saturn-Parkhaus ein „attraktives Parkplatzangebot“? Hat das Gestrüpp rund um Hauptbahnhof „Aufenthaltsqualität“? Dass das „öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben“ zum Erliegen kommt, weil eine Bezirksfußgängerzone statt durch Saturn oder C&A durch ein leerstehendes Kaufhaus geprägt wird, widerspricht zwar im Falle der Großen Bergstraße allem Anschein, ist aber mittlerweile offensichtlich die allgemeine Auffassung. Um den Frappant-Komplex herum ist in den letzten Jahren ein Schandfleck-Diskurs gewuchert, auf welchen von taz Hamburg („Letzte Hoffung Abbruch“) bis Bild („Altonas Große Bergstraße stirbt“) alle Hamburger Medien eingestiegen sind. Sogar das Hamburger Thalia-Theater hilft bei der Dramatisierung: Unter dem Titel „Die bitteren Tränen der Großen Bergstraße“ inszeniert das Haus „die Geschichte eines Verfalls: Einst glanzvollste Meile Hamburgs, Deutschlands erste Einkaufsstraße, ist die Große Bergstraße heute ein Sanierungsfall. Nichts indes lässt sie unversucht, wieder wer zu sein. Ihr Weg, der zielt zurück ins Zentrum.“ Glanz hin, öffentliches Leben her – warum die Stadtplaner dem Gebiet rund um die Große Bergstraße „Anzeichen eines problematischen Stadtquartiers“ attestieren, verschweigen sie nicht: „Ingesamt liegt im Stadtteil eine verminderte Kaufkraft vor.“ All das Gejammer über „Mängel in der Stadtgestalt“ oder „unattraktive Wegeverbindungen“ schnurrt sich auf dieses Fazit zusammen: „Der Funktionsverlust – insbesondere der Großen Bergstraße – manifestiert sich in einer anhaltend sinkenden Kaufkraftbindung.“

Street of Brennpunkt: Gutes „Off“ und schlechte Belebung

Doch was ist so schwer hinnehmbar an einer angejahrten Bausündenmeile mitten in Hamburg, in der sich Hartz-IV-Empfänger, Rentner und andere Mitglieder des abgehängten Prekariats noch manchmal Butterkuchen mit Kaffee satt leisten können? Ist Altona-Altstadt mitsamt der Großen Bergstraße vielleicht einfach der letzte Stadtteil der westlichen inneren Stadt, in dem nicht junge Kreative und ältere Gutverdiener das Straßenbild prägen? „Eine Stadt wie Ludwigshafen hätte gerne die Probleme von Hamburg“, meint der Kurator und Künstler Filomeno Fusco, „die haben so etwas wie die Große Bergstraße mitten im Zentrum.“ Fusco, der in ganz Deutschland Kunstprojekte in urbanen Brachen macht, hat im Mai 2006 zusammen mit Dirck Möllmann die Ausstellung Stile der Stadt im Forum Altona kuratiert, eine ehemalige Einkaufspassage, aus der die letzten Geschäfte schon vor Jahren verschwunden sind. Ein für die Ausstellung zwar nicht typisches, aber hübsches Projekt hieß Street of Beauty: Die Künstler Jan Holtmann und Baldur Burwitz zogen ein paar Wochen durch die Läden und Wohnungen rund um die Große Bergstraße und boten den Anwohnerinnen und Anwohnern für rund 100 Euro einen maßgefertigten, schneeweißen Anzug an. Das sympathisch Subversive dieser „sozialen Skulptur“ könnte sein: Wenn man den Kunst-Auftrag zur Stadtverschönerung einfach auf dem direktesten Wege erfüllt und den Schandfleck-Bewohnern eine schicke Offerte macht, verschönert man womöglich die Falschen – nämlich die Billigheimer, die hier weg sollen. Der Kaufkraftmangel im Viertel wurde allerdings auch den Künstlern zur Hürde. Ein nicht geringer Teil der weißen Hundert-Euro-Schmuckstücke musste an Bekannte aus dem kreativen Umfeld verkauft werden, allerdings mit der Auflage, diese keinesfalls im Schanzenviertel zu tragen. Auch der Autor dieser Zeilen konnte in einem neuen weißen Anzug auf der Vernissage von Stile der Stadt herumstehen. Bierselig zankte ich mich mit dem Künstler Burwitz herum. „Das ist ein sozialer Brennpunkt hier!“ rief dieser. „Quatsch Brennpunkt!“ rief ich zurück. „Das ist der letzte zentrale Stadtteil, in dem noch arme Leute wohnen.“ „Ich weiß wovon ich rede!“ rief Burwitz. „Wir sind durch die Hochhäuser gezogen! Das ist echt hart hier!“


Große Bergstraße, 14.04.2006, "Sitzklapp". Ausschnitt aus dem Projekt „Public Spaces- Private Places. Eine aktive Untersuchung sozialer Praxis“ von Sacha Essayie

Auch die Off-Kunst-Szene ist empfänglich für den Reflex, von „niedriger Kaufkrauftbindung“ auf „Problemstadtteil“ zu schließen. Das mag auch an den Argumentationsstrategien liegen, die Künstler aufwenden müssen, um in urbanen Brachen an günstige Ateliers und Ausstellungsräume zu kommen. Stadtväter und Vermieter wollen auf keinen Fall, dass renitente Zwischennutzer potentielle Investoren vergraulen. Andererseits wünschen sie sich eine imagefördernde Belebung, um diese erst anzulocken. Wenn es mit der Brache klappen soll, müssen Künstler also tunlichst argumentieren, dass ihre – zeitlich natürlich klar eingehegten – Projekte einen irgendwie positiven Effekt in einem irgendwie problematischen Gebiet haben. Im Falle der Großen Bergstraße, die seit 2005 als Sanierungsgebiet deklariert ist, werden sie dabei patroniert von einem wohlmeinenden „Quartiersmanagement“. Das ist, anders als der Name vermuten lässt, keine Einrichtung der Stadtentwicklungsbehörde sondern eine private Interessengemeinschaft von Gewerbetreibenden. „Wir haben hier durch ganz viele Kulturprojekte das Image verbessert“, weiß Mitarbeiterin Katharina Regenstein zu vermelden. Nun sind Quartiersmanagerinnen keine Kuratorium und deshalb tummelt sich hinter den ehemaligen Schaufenstern des Forum Altona ein wahlloses Durcheinander von Projekten: vom großformatigen Kunstmalerkitsch über die sperrigere Blinzelbar bis zu dem eher großbürgerlichen Kulturwerk, in dem der Financial Times-Chefredakteur und John- Neumeier- Ballettdirektorin im Beirat sitzen. Die „gute“ Off-Kunst setzt sich dabei von der „naiven“ Imageförder-Kultur im Wesentlichen dadurch ab, dass sie die eigene Rolle im Gentrifizierungs-Prozess problematisiert und das „Image der Sorgenzone“ (Stile der Stadt) hinterfragt.

Disneyland statt Branding: Die Industrie steigt ein

Mit dem Ding Dong-Festival tauchte im Frühjahr 2006 ein Big Player am Belebungshorizont der Großen Bergstraße auf: Die Industrie. Getarnt als „Art Initiative“ meldete ein transnationaler Kaffeekonzern Bedarf an einem Kunstfestival an, das ein neues „Kaffeepadsystem“ – Motto „Experience the Revolution“ – einem jungen, kreativen Publikum nahebringen sollte. Die Türen zum Frappant-Gebäude, die etwa für Stile der Stadt verschlossen geblieben waren, flogen mit Schwung auf, denn der Konzern brachte Geld mit. Er ließ eine Sprinkleranlage installieren, bezahlte die Heizkosten sowie in ausreichender Menge Security-Männer mit Knopf im Ohr und stellte ein ordentliches Budget zur Verfügung, damit KünstlerInnen aus dem Erdgeschoss des Ex-Kaufhauses eine Installations- und Barlandschaft machen konnten. Drei Wochen lang Kunst- Party- Event kosteten die Kaffeeröster 230 000 Euro, die Promotion- Agentur nicht mit eingerechnet. Doch sie brachten auch den gewünschten Marketing-Effekt. „Wir mussten 50 Millionen Kontakte erzielen mit diesem Event“, so Kim Pörksen, Co-Kurator von Ding Dong. „Über Direktkontakte, Flyer, Plakate, Zeitung, Website und so weiter.“ Die Rechnung ging voll auf. Einen April lang schien der vielgeschmähte Frappant-Schandfleck der Piazza im Schanzenviertel den Rang abgelaufen zu haben. Am Abschlussabend kamen rund 3500 Besucher, die Schlange ging ein Mal ums Gebäude herum. Ding Dong wirkte wie die eine gut gemachte TV-Serien-Version eines Off-Kunst-Ortes – original Golden-Pudel-Klub-DJs mit crazy Japan-Bands im geschmackvoll zusammengeklopften Spermüll-Ambiente. Aber das Projekt sprach eben nicht nur das szeneaffine Publikum an. Nachmittags stapften durch die bunten, begehbaren Installationen migrantische Familien ebenso wie Kindergartengruppen. Von der „seriösen“ Kunstkritik mit Naserümpfen bedacht, hatte Ding Dong allemal den Vorzug, dass es niedrigschwellig genug für eine Anwohnerschaft war, die in inhaltlich gewichtigere Ausstellungen wie Stile der Stadt nur sehr vereinzelt hineinstolperte. „Es ging ja eher um Disneyland“, sagt Kim Pörksen, der überhaupt kein Problem damit hat, eine Kunstplattform zu Werbezwecken zu konzipieren: „Es ist okay, solange man nicht zum direkten Erfüllungsgehilfen wird.“ Die Ding-Dong-Macher sind Vertreter einer neuen Kreativen-Zunft zwischen Kunst und Marketing, die ihren Markenkunden erfolgreich beipulen, dass es cool und imagefördernd ist, KünstlerInnen eine Spielwiese zu finanzieren, statt sich von ihnen Wodkaflaschen oder Zigarettenpackungen gestalten zu lassen. „Advertising sucks!“ lautet die Überschrift des Einführungstextes im Ding-Dong-Katalog. „Ich glaube fest daran“ schreibt Ding-Dong-Mastermind Derek Richards hier, „dass die Marken, die ihrer Verantwortung dadurch gerecht werden, dass sie sich fragen, was sie für die Leute tun können, die sie als Konsumenten gewinnen wollen und dementsprechend handeln, mehr öffentliche Aufmerksamkeit bzw. „Image“ gewinnen, wie Marketing-Nerds es zu nennen pflegen. Idealerweise ist also eine Win-Win-Situation für alle erreichbar.“ Dass das Produkt im Bild war, war am Ende nicht ganz so nebensächlich: Am Tag nachdem Ding Dong das Frappant-Gebäude geräumt hatte, begehrte ein Fotograf mit Kaffeemaschine Einlass in die leeren Räume. Er hatte vergessen, während des Festivals eine der Maschinen zu fotografieren, die überall herumstanden und musste dieses nun unter Orginal-Lichtverhältnissen nachholen, um die Geräte dann per Computer in das eine oder andere Festival-Foto hineinkopieren zu können.

Problemkind mit Potential: Endziel Ankermieter

Nicht nur für das revolutionäre Kaffeepadsystem, auch für Quartiersmanagerinnen und Bezirkspolitiker war Ding Dong ein Glücksfall. Führte es doch in Form eines Kunst-Party-Laborversuches vor, wie es sein könnte, wenn das erwünschte Publikum das Gebiet massiv infiltriert. Man ist voller Hoffnung, dass das frisch gebackene Sanierungsgebiet Altona-Altstadt einen zügigen Gentrifizierungsprozess durchläuft. Die Zeichen stehen günstig, finden die Stadtplaner. Schon die zwei Jahre alte GEWOS-Studie stellte fest, dass das Gebiet „als Wohnstandort zunehmend von jungen Menschen, darunter StudentInnen und junge Kreative, nachgefragt“ wird. „Man sieht ja am Schanzenviertel, was das für eine Dynamik entfalten kann“, sagt Frau Regenstein vom Quartiersmanagement, die auch durchaus den festen Willen ihrer Institution bekundet, dass Kultur hier „nicht nur als Zwischennutzer, sondern durchaus fest verankert“ werden müsse. Unter der Überschrift „Ideenwerkstatt“ stehen an der Pinnwand im Quartiersmanagement-Büro weitere fromme Wünsche: „Eine Große-Bergstraßen-Universität gründen“ zum Beispiel, oder auch „preiswerte große Wohnungen“. Die von GEWOS fachmännisch erarbeiteten „Sanierungsziele“ sehen natürlich anderes vor: „Schaffung zusätzlichen Wohnraums für Haushalte mit höherem Einkommen“, heißt es dort – nur ein paar Spiegelstriche unter „Förderung von Künstlerprojekten“. Was her muss, damit die Resterampen-Brachenlandschaft endlich die ersehnte „Stabilisierung und Optimierung des Einzelstandorts“ erfährt, ist längst schon klar: Ein „Ankermieter“ muss her. Ankermieter, erläutert Frau Regenstein, sind große Ketten, die die kleinen Einzelhändler nach sich ziehen. So etwas wie Media Markt oder H&M eben. Aber die gibt es ja schon im Mercado, einen Steinwurf entfernt. Mit einigem Recht durften sich die kreativen Trockenwohner in der Großen Bergstraße daher bishr Hoffnung darauf machen, dass so bald kein Investor in unmittelbarer Nähe zum Ottenser Konsumpalast ein weiteres Shopping-Monstrum abwerfen will. Gerade erst hat sich das Hafenklang, dessen Räumlichkeiten an der Großen Elbstraße saniert werden, unter dem Namen Ex-Frappant im ehemaligen Karstadt breitmachen dürfen. Ende Oktober dann die Nachricht: ein Schweizer Investor namens K-Werkstatt hat das Frappant-Gebäude erworben. Man plant 50 000 Quadratmeter Geschossfläche – mehr als derzeit – mit etwa 300 Wohnungen und einer „auf zwei Geschossen großzügig verglasten Fassade“ mit „durch Transparenz überzeugenden Einzelhandelsflächen“. Zwar lässt die Bild-Zeitung den Oberbaudirektor Jörn Walter schimpfen, er könne sich „da beim besten Willen kein Glashaus vorstellen.“ Doch auch für Walter gibt es keinen Zweifel: „Am Ende wird in Altona ein wunderschönes Einkaufszentrum stehen.“ Dann ist es endlich vorbei mit der sinkenden Kaufkraftbindung.


Große Bergstraße, 31.10.2005, „30 Stühle“. Ausschnitt aus dem Projekt „Public Spaces- Private Places. Eine aktive Untersuchung sozialer Praxis“ von Sacha Essayie

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Jessica Frische schrieb am 01.12.2006 18:45

Angesichts des geschilderten bunten Treibens in 1-Euro-Shops und an Woolworth-Wühltischen will bei mir keine Prekariatsromantik aufkommen. Trotzdem finde ich die Frage wichtig, aus welcher Motivation heraus Städteplaner, Quartiersmanager und Künstler das Viertel um die Große Bergstrasse mit einem Problemstadtteil gleichsetzen.
Liegt doch anhand der angeführten Beispiele der Verdacht nahe, dass diese Gleichung hauptsächlich dazu dient, den nun tätig gewordenen Interessengruppen zu Macht und Einfluss zu verhelfen.
Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die vom Autor als "hübsch und sympathisch subversiv" bezeichnete künstlerische Arbeit "Street of Beauty" von Jan Holtmann und Baldur Burwitz. Die Aktion, die im Rahmen der Ausstellung "Stile der Stadt" entstanden ist, bot den AnwohnerInnen, die sich eben noch in den 1-Euro-Shops gedrängelt haben, weisse maßgeschneiderte Anzüge, inklusive einer damit verbundenen "neuen Identifikation mit der Großen Bergstrasse", für 100 Euro an. "Eine umfassende soziale Skulptur" mit der lässigen Eleganz einer Modelinie zu schaffen, sollte das Ziel sein. Ob damit die Interessen der Bewohner getroffen wurden, ist eine andere Frage.
Aber die beiden Künstler müssen es ja wissen: "Wir sind durch die Hochhäuser gezogen! Das ist echt hart hier!"
Ein wunderbares Beispiel für die Instrumentalisierung sozialer Verhältnisse für die eigenen Zwecke - ein Dankeschön für dieses Zitat!

Christoph Schäfer schrieb am 24.02.2007 19:33

Sehr verehrte Jessica Frische,

bezeichnend, dass sie ausgerechnet die Arbeit, die die Abgefucktheit der die Situation Die-Neue-Große-Bergstraße-und-die-Kunst durchziehenden Interessen am gewitztesten ausspielt, nicht verstehen. Auch der Artikel von Christoph Twickel macht es sich mit der Arbeit von Jan Holtmann sehr bequem – und reicht in der Beschreibung nicht an die Reflexionshöhe der Aktion selbst heran. Jedenfalls ist die keineswegs als gutes Beispiel zu lesen für die „Instrumentalisierung sozialer Verhältnisse“ durch die Kunst.

Solche Arbeiten gibt es ja gerade zu Hauf, doch ist Holtmann scharf von jenen Kolleginnen und Kollegen zu unterscheiden, die eine vom emanzipatorischen Ethos befreite Moderne in aristokratisch über sich selbst aufgeklärter Geste gegen den Pöbel in Stellung bringen und diesen für ein Handgeld mit geraden Linien tätowieren lassen, zum Beispiel.

Doch dieselben Koordinaten spielen unter anderen Vorzeichen auch im Holtmannschen Universum eine Rolle, nämlich: die Moderne, die Avantgarde, die entleerte Farce, das Handgeld und der Pöbel.

Ich möchte deshalb dieses Mißverstehen meiner Vorredner und Verrednerinnen zu einer, wie ich finde, sehr zielgenauen Arbeit, dazu nutzen, die Situation zu beschreiben, auf die sie sich mit Genialität bezieht – im Gegensatz zu den – teilweise erwähnten, teilweise auch ausser acht gelassenen Agenten - die diese Situation (naiv oder vorsätzlich) bestimmen, vorantreiben oder ihr zum Opfer fallen.

Die Arbeit:

Wie oben beschrieben, schloß der Künstler jüngst einen Deal mit einem Herrenschneider ab, und bot den AnrainerInnen einer runtergerockten Einkaufszone, der Neuen Großen Bergstraße in Hamburg Altona, stark verbilligte, schneeweiße Maßanzüge an. Einzige Bedingung an das Sonderangebot: die Käufer sollten den Anzug während der Ausstellungsdauer möglichst oft in der Neuen Großen Bergstrasse tragen.

"Weiß" hat dabei natürlich unterschiedliche Bedeutungen: einmal spielt es auf die weiße Leinwand der Avantgarde, also auf das Malerei-Verweigerungs-Weiß, das alle-Möglichkeiten-sind-noch-offen-Weiß an, und auf das mit sich selbst materialidentische Weiß der modernen Architektur, auf das als demonstrative Neutralität auftretende Weiß Gandhis, der Galerien, Museen und Kliniken. Andererseits auf die in der Moderne verdrängte soziale Bedeutung von Weiß, das Weiß, das sich die Finger nicht schmutzig macht, auf das kunsthafte Weiß des "Weißen Albums", auf das schicke Weiß der iPods, auf das Weiß des Chique-Covers und natürlich auf den wenn-ich-Tags-schon-als-asozial-gelte-bin-ich-wenigstens- in-der-nächtlichen-Disco-der-König-Weiß des Anzugs von John Travolta in Saturday Night Fever. Womit wir beim Titel der Ausstellung wären, in deren Rahmen die Arbeit entstand: "Stile der Stadt". Hauptsächlich ging es jedoch darum, auf den Ausstellungskontext Bezug zu nehmen, in dem die Kunst als Element der Aufwertung von preisverfallenen Immobilien einkalkuliert wird.

Der Kontext:

Dass Kunst nicht mehr als etwas vom Gesellschaftlichen Getrenntes gedacht werden kann, sondern immer schon in einen Kontext eingebettet ist, der mitbedacht und -bearbeitet werden will - so ein Satz liest sich wie einer, mit dem Drittsemester die Erstsemester erschrecken. Dennoch: es ist die Wahrheit, da können Sie sich auf den Kopf stellen.

Die Situation, auf die sich die Anzüge beziehen, ist erstmal ganz einfach: die Immobilienbesitzer um die Neuen Großen Bergstraße erhoffen sich eine Wertsteigerung ihres Besitzes. Bekanntlich ist die Immobilienbranche einer der korruptesten Wirtschaftszweige der Welt. Ebenso ist weltweit immer derjenige Bereich der Stadtverwaltung am korruptesten, der mit Immobilien, Bauen und Grundstückshandel zu tun hat. Diese Krake hat nun anscheinend auch den Hamburger Senat soweit im Griff, dass von hier Weisungen an die Kulturbehörde zu gehen scheinen, wo das öffentliche Geld einzusetzen sei, um private Profite einzufahren: Hafencity, Wilhelmsburg, Neue Große Bergstrasse. Im Falle der Neue Große Bergstrasse hatte man nämlich vergeblich jahrelang alles Mögliche versucht, um den Niedergang aufzuhalten: im Sommer 2000 wurde in der Fußgängerzone die 60erjahre Pavillionarchitektur abgerissen, um die imageschädigenden 99-Pfennig-Shops und deren mittellose Kundschaft zu vertreiben. Den Karstadt-Quelle-Konzern hatte man vor der Schließung jahrelang durch Mietsubvention (1 Euro pro Monat für das gesamte Kaufhaus) als "Magnet" gehalten: ein Restepostenmarkt, mit einem Aldi im Kellergeschoß. Dann war eine benachbarte Einkaufspassage renoviert worden, die bald wieder ganz leer stand. 2006 wurde eine Busspur in die Fussgängerzone gebaut. Ohne sichtbaren Erfolg: Leerstand und Matratzen-Discounter bestimmen weiterhin das Bild.

So wie sie in den letzten zehn Jahren war und teilweise jetzt noch ist, gefällt mir die Neue Große Bergstrasse eigentlich ganz gut: auch mit zehn Euro in der Tasche läßt sich ein Einkaufsbummel mit der ganzen Familie finanzieren. Die zahlreichen Second-Hand-Läden und Schnäppchenmärkte scheinen nicht nur Angebote für die Sozialkürzungsgebeutelten, sondern auch graue Jobs für die illegalisiert hier Lebenden zu bieten. Eine im Stil einer Sushi-Bar designte Bäckereifiliale funktioniert mit ihren langen Bänken und Tischen so demokratisch, kultur- und klassenübergreifend wie eine Kombi aus türkischem Tee- und bayerischem Biergarten.

Dass jetzt die Kunst ins Spiel kommt, um diesen Zustand zu beseitigen, ist kein Zufall, sondern hängt mit dem tendenziellen Fall der Profitrate zusammen und mit dem Erreichen jener kapitalistischen Entwicklungsstufe, in der nicht mehr die gesteigerte objektive Qualität eines Produkts, oder eine Effektivitätssteigerung auf der Produktions- und Vertriebsseite für den Profit verantwortlich sind, sondern auf der das Image zu einem entscheidenden Faktor geworden ist. Dies gilt erst Recht für den Immobilienmarkt: Orte müssen sich mit Geschichten, mit Bildern verknüpfen, sollen inspirieren, sprechen, Flair haben, vernetzt sein. Das können Subkulturen am besten, aber das ist kompliziert und kann nach hinten losgehen. Am zweitbesten, und häufig auch am konfliktlosesten, kann das die Kunst. Die Ausstellung DING-DONG, finanziert als Promoaktion einer holländischen Kaffeerösterei, passte da perfekt ins Bild. Die event-Ausstellung junger Talente wurde einem als Kunststadt-in-der-Stadt verkauft, verstand sich selbst vermutlich als milder Situationismus. Im ehemaligen Karstadt gab es lauter Installationen, die irgendwie aussahen wie Kunst. Nichts war zwingend, alles hatte man so ähnlich schonmal gesehen, alles war so kann-man-machen-kann-man-auch-sein-lassen-mässig. Tatsächlich formale Nähe hatte die Schau treffenderweise zu Mobiliar, Struktur und Humorverständnis des Messebaus. Lustigerweise ist Dingdong damit wieder bei genau jener Präsentationsform gelandet, von wo eine sich der event-kultur zuwendende, erweiterte Werbestrategie gerade wegwill...

Das Schicke:

Doch die Kunst hat kein Monopol auf "Image", oder das Sprechen visueller Sprachen im Raum: alle tun das. Wenn die Künstler und Subkulturen die Grundzivilisierungsarbeit geleistet haben, mehren sich die fetten schwarzen Limousinen, die Weinläden, gehobenen Restaurants und Boutiquen für Edelstrick, und vermitteln dem verarmten Fussvolk, dass es hier nichts mehr zu suchen hat.

Die Anwesenheit fetter schwarzer Limousinen darf man - das habe ich häufiger erlebt - nicht kritisieren. Das sei populistisch, wird dann meist gesagt, und schüre reaktionären Sozialneid. Ich sehe das anders: es gibt eigentlich keinen Weg, an eine fette teure schwarze Limousine zu kommen, der nicht zumindest indirekt von Ausbeutung und verschärfter Ungerechtigkeit profitiert. Und in einer Imageökonomie (siehe: oben), ist ein unbehelligt im öffentlichen urbanen Raum parkendes fettes schwarzes Auto durchaus ein Indikator dafür (siehe: broken windows Theorie), daß es sich für eine gewisse Schicht hier lohnt, zu investieren, herzuziehen und die Limousinenlosen zu verdrängen.

Womit wir beim Pöbel wären, der von Holtmann für ein Handgeld mit schicken weißen Anzügen versorgt wurde. Und womit wir bei der Situation und der unausgesprochenen Auftragslage wären, der der Künstler sich durch elegante Übererfüllung entzog.

Jessica Frische schrieb am 02.03.2007 11:22

Lieber Herr Christoph Schäfer,

ich freue mich sehr, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mein Verständnis für die Arbeit "Street of Beauty" von J. Holtmann und B. Burwitz gewinnen zu wollen.
Wirklich überrascht haben mich ihre vielfältigen Assoziationen zu der Farbe "Weiß". Interessant fand ich es auch, zu erfahren, dass Kunst etwas mit Gesellschaft zu tun hat und die Immobilienbranche der korrupteste Wirtschaftszweig der Welt ist.
Das fetten schwarzen Limousinen und weissen Anzügen gemeinsam ist, dass sie schick sind, habe ich auch verstanden - Verständnis für die Arbeit von J. Holtmann und B. Burwitz habe ich dadurch leider nicht gewinnen können.
Ihre Reflexionshöhe macht mich schwindeln.

Ihre verehrte Frau Jessica Frische

p.s. Ich setze mich übrigens auch gerne an das Sushi-Mobiliar der Bäckereifiliale in der Neuen Großen Bergstrasse und trinke Kaffee.

Christoph Schäfer schrieb am 04.03.2007 12:52

Liebe Jessica Frische,

nichts läge mir ferner, als Ihr Verständnis für die Arbeit von Burwitz und Holtmann gewinnen zu wollen. Von mir aus können sie auch gerne eine künstlerische Arbeit, die sich symbolisch und ambivalent auf eine Aufwertungssituation bezieht, als affirmativ und ausbeuterisch lesen, statt als kritisch oder ironisch.


Zum Schreiben bewog mich vielmehr, dass die Arbeit von Holtmann und Burwitz gut ist + ihr Kommentar eine häufig anzutreffende Haltung gegenüber dieser speziellen Arbeit wie auch ähnlich vieldeutig operierender Arbeiten widerspiegelt.

"Streets of Beauty" benennt als eine der wenigen in dieser ganzen Reihe von Ausstellungen in der Neuen Großen Bergstrasse, was dort los ist, und verweist auf die eigentümliche Wandlung eines Kunst-im-öffentlichen-Raum Begriffs zu einem immer unverblümter auftretenden Auftrag an die Kunst, sich in den Dienst der Aufwertungspolitik zu stellen. Lässt sich ein in Verbindung mit den weißen Anzügen formulierter Satz, man wolle damit zu einer "neuen Identifikation mit der Großen Bergstrasse" kommen, anders lesen als ein ironisches Zitat dieses zynischen stadtentwicklungspolitischen Auftrags?

Grüße,

CS

Thomas Demming schrieb am 24.05.2007 22:51

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