Kultur und öffentlicher Raum: Über die Aneignung des Hamburger Schanzenviertels
von Anne Vogelpohl
»Piazza« – der Inbegriff von Demokratie und integriertem Zusammenleben. Ein belebter öffentlicher Raum, der allen zugänglich ist und an dessen Leben jedeR teilhaben kann. Seit 2002 heißt der neu gestaltete Schulterblattplatz im Hamburger Schanzenviertel«. Tatsächlich ist zu jeder Tages- und Jahreszeit ein reges Treiben zwischen den Tischen und Bänken zu beobachten. Der Platz gilt als Beispiel für buntes Straßenleben schlechthin, wie inzwischen in jedem Reiseführer und Stadtmagazin nachzulesen ist. Bietet dieser Raum jedoch wirklich die Chance ungezwungener Kommunikation und Verwirklichung jeden Lebensstils? Denn gleichzeitig werden auch andere Geschichten über das Schanzenviertel erzählt: Die der Verdrängung alternativer Subkultur, die »die Schanze« ja eigentlich erst lebendig gemacht hat, oder die der Kommerzialisierung durch Gastronomie und teure Läden. Und die Geschichte über das offene, tolerante, andersartige Schanzenviertel mit durchweg positiven Konnotationen hat daneben auch noch immer Bestand.
Die parallel laufenden Narrative zeigen, dass es das Schanzenviertel nicht gibt. Es gibt nicht nur unterschiedliche Deutungen des Ortes, sondern es existieren auch verschiedene soziale Gruppierungen neben-, mit- und gegeneinander her. Die zum Teil kritischen Deutungen des Schanzenviertels machen klar, dass Beteiligte das Bedürfnis haben, sich in einem Raum zu bewegen, der ihren Vorstellungen entspricht und von dem sie ein Teil sein können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle die Aneignung von Räumen auch für das soziale Zusammenspiel kultureller Akteure spielt. Die grundsätzliche Bedeutung von Orten für kulturelles Schaffen und Leben wird an der lokalen Musikszene besonders deutlich.
Aneignung oder »Wem gehört die Stadt?«
Oft wird behauptet, dass gerade in Zeiten der Globalisierung und postmoderner Unsicherheiten konkrete Orte eine besondere Wichtigkeit für Identifikation und Stabilität erlangen (Brenner 2000; Harvey 1990). Das heißt, dass über die Aneignung öffentlicher Räume Identitäten verankert werden. Dieser Prozess kann als symbolische Inbesitznahme verstanden werden, die sich zunächst materiell (z.B. über spezifische Läden oder Kleidung) und praktisch äußert (über die Realisierung verschiedenster Alltagsaktivitäten am Ort), schließlich aber auch im sense of place. Tuan beschreibt sense of place als emotionales Band zwischen einem Ort und der eigenen Identität (Tuan 2004). Daraus entstehen sehr spezifische Verständnisse davon, was an den Orten gemacht und gedacht werden und wie damit auch die Qualität des Ortes beschaffen sein soll. Unterschiedliche Verständnisse von einem Ort können aus diesem Grund zur Ursache lokaler Auseinandersetzungen werden. Konflikte um Aneignung und Beherrschung von Zeiten und Räumen (Harvey 1990) finden vor allem in Städten statt. Vielfalt ist die Basis für Urbanität, in der die urbanen Akteure sich einzurichten versuchen. Derartige Konflikte werden besonders deutlich in Quartieren, die einer schnellen, stetigen Transformation unterliegen – wie zum Beispiel dem Schanzenviertel, dessen Repräsentation sich innerhalb von nur zwanzig Jahren vom heruntergekommenen Arbeiterquartier über das Viertel alternativer und kultureller Szenen, das Quartier mit politischen Widerstandspotential und schließlich dem Drogenviertel zum gentrifizierten Konsumstadtteil verändert hat. Dabei gerät schnell aus dem Blick, dass viele dieser Elemente in unterschiedlicher Intensität schon immer koexistent sind und waren, auch wenn nur die Aneignungspraktiken bestimmter sozialer Gruppierungen offensichtlich werden.Die Musikszene im Schanzenviertel1Im Zuge des 2006 eröffneten Kulturhaus 73 im Schulterblatt wurde immer wieder behauptet, was das Schanzenviertel wirklich brauche, sei Kultur (Coesfeld 2006). Allerdings wird schon 1992 in einem Reiseführer geschrieben: »Im Schanzenviertel hat aber auch Kultur Tradition« (Györffy 1992: 152). Manifestieren sich hier die unterschiedlichen Wahrnehmungen von dem, was das Schanzenviertel ist? Oder ist die Kultur im Laufe der letzten 15 Jahre verschwunden? Ein wichtiger Pfeiler der (Sub)Kultur ist für das Schanzenviertel die Musikerszene, die vor allem in den 1990ern sichtbar im Quartier war. Im folgenden Zitat wird sowohl die materielle als auch praktische Aneignung des Quartiers deutlich:
»Ich habe mich natürlich jahrelang immer im Schanzenviertel aufgehalten – die Rückkopplung war ja im Schulterblatt, ein paar Meter über die Max-Brauer rüber. Und das war ja der Treffpunkt überhaupt. Gegenüber war dann die Szene Hamburg, da waren dann Alexander Diehl und wie sie heißen die Schreiberlinge. Dann hat man sich über Musik unterhalten, Platten angehört und Kaffee getrunken« (IV-MB).
In diesem Gespräch kommt die Wichtigkeit lokaler Treffpunkte zum Ausdruck, die das kulturelle Leben immer wieder neu erzeugen: Treffpunkte an denen über Musik geredet wird, Bands gegründet und verändert werden: »Ich weiß nicht, wie viele Projekte schon in der Mutter entstanden sind. Blumfeld wurden hier bestimmt schon dreimal neu besetzt« (ebd.). Die Anwesenheit in öffentlichen und teilprivaten Räumen ermöglicht Begegnungen als Grundlage für Kommunikation und Kooperationen. Um diese lockeren Netzwerkbildungen eingehen zu können, findet ein kollektiver Aneignungsprozess von Akteuren aus der Musikszene im Schanzenviertel statt.
Von der Aneignung des Raumes zur Aneignung der Zeiten
Die jüngeren Entwicklungen haben im Schanzenviertel jedoch dazu geführt, dass andere soziale Gruppen und Aktivitäten dominant wurden und die Musikszene nicht mehr prägend für den Ort ist:
»Das war schon mehr mit der Musikszene Hamburgs. Es gab mehr kleine Läden, wo Konzerte waren. Mit dem Karmers fing das für mich an, das wurde abgerissen. […] Was ich eigentlich immer mit Musikszene und Schanzenviertel verbunden habe, ist eigentlich Flora und FSK, was nun beides im Schulterblatt sitzt, FSK nun nicht mehr [und die Flora] wird immer mehr eine Insel.« (ebd.)
Inzwischen markiert die starke touristische Nutzung das Quartier zunehmend mit den Zeichen ihrer Aneignung: viele neue Kneipen und Lifestyle-Läden, beides vermehrt auch nicht mehr inhaberbetrieben und die augenscheinliche Hauptaktivität beschränkt sich auf die Gastronomie. Damit drängt sich die Frage auf, ob das zur Verdrängung oder auch nur Behinderung der Musikszene führt, oder ob Begegnungen und Netzwerke weiterhin möglich, nur im Straßenbild nicht mehr so deutlich sind. Trotz zum Teil schwindender Läden und Clubs hat sich der räumliche Schwerpunkt der lokalen Szene offenbar nicht verlagert:
»Das ist schon eine im Schanzenviertel und drumherum auch noch geortete Szene, die sich in den einschlägigen Kneipen trifft. Das ist schon ein spezieller Fall. Das ist schon ein Musikerdorf, Schanze« (ebd.). Oder:
»Die Bekloppten und Besessenen, die finden sich immer. In Hamburg läuft das genauso ab. Zum Beispiel die Mutter, man kennt da inzwischen jeden. […] In Hamburg hat man natürlich das Glück, im Gegensatz zum Beispiel zu Berlin, muss man ganz klar sagen, dass die Szene doch an festen Standorten festgemacht und fixiert wird.« (IV-BR)
Die alltagspraktische Aneignung findet dementsprechend noch immer statt:
»Eigentlich bewege ich mich sehr oft in dem Bermuda-Dreieck Arbeiten, Mutter, Schlafen gehen, wieder arbeiten, nach der Arbeit wieder Mutter, wieder schlafen gehen. Das ist ja gegenüber.« (IV-FD)
Die Möglichkeit, sich über Aneignung ein Gefühl von Zugehörigkeit zu verschaffen, hängt allerdings zunehmend von der Nutzung spezifischer Zeiten ab – Zeiten, die von anderen nicht genutzt werden:
»Es geht einem immer mehr auf die Nerven, was da an Galaogesocks rumhängt. […] Am Wochenende gehe ich auch nicht mehr gerne in die Mutter. Freitagabend, so zur Stoßzeit, da mache ich da auch einen Bogen drum.« (IV-MB)
Dieses Gefühl ist ein Zeichen von sense of place, das sich für die Musikszene zunehmend in die Nacht verlagert:
»Das passiert oft, dass man da nachts um zwei vorbeigeht und dann: ‚Ach guck mal, da sitzt ja soundso am Tresen, da geh ich noch mal kurz rein.’ Und dann trinkt man natürlich nicht nur ein Bier, sondern vier bis fünf, zehn….« (IV-FD)
Diese Beispiele stehen dafür, dass die lokale Musikszene immer noch sehr lebendig und Teil des Alltages im Schanzenviertel ist. Auf den ersten Blick wirkt das Quartier jedoch nicht mehr als »Viertel der Subkulturen«. Dennoch eignen sich zugehörige Akteure das Viertel weiterhin an. Deren Wirkungen materialisieren sich nicht nur an Gelegenheiten des Nachtlebens, sondern sind auch tagsüber an Institutionen (wie Rote Flora, Tonträgerunternehmen, RockCity2) oder Platten- und Musikalienläden erkennbar.
Aneignung von Raum und Zeit als Element kulturellen Schaffens
Das Phänomen, sich Räume zu Eigen zu machen, ist kein natürlicher oder sogar willkürlicher Prozess. Im Gegenteil besteht namentlich für kulturelle Akteure geradezu die Notwendigkeit, Beziehungen aufzubauen, die sowohl in der künstlerischen Produktion als auch in der Distribution von Bedeutung sind: Die Stadt funktioniert als Bühne »zum Auftritt, der in der Flüchtigkeit der Kontakte Aufmerksamkeit erregt« (Weiss 1999:14). Kooperationen ergeben sich in der Regel aus »zufälligen Begegnungen«. Aus der Perspektive der Aneignung wird jedoch offensichtlich, dass derartige Begegnungen nicht zufällig sind, sondern auf kollektiven Praktiken beruhen, die an spezifischen Orten zu spezifischen Zeiten Kommunikationsformen und Handlungen möglich machen: »Christian geht vorsätzlich seit Jahren in die Mutter, auch um da Konneke zu machen und Leute kennen zu lernen aus allen möglichen Bereichen der Branche […] und das klappt auch hervorragend.« (IV-MB)
Kulturelle Netzwerke sind demnach ortsgebunden. Die Beispiele zeigen, dass ein Quartier wie das Schanzenviertel, das eine sehr ausgedehnte zeitliche Rhythmik aufweist, für unterschiedliche soziale Gruppierungen die Chance für Begegnungen und damit lockere Kooperationen bietet. Auch wenn im Schanzenviertel bestimmte Akteursgruppen dominant geworden sind und sich bei vielen das Gefühl einstellt: »Das ist nicht mehr mein Ort«, besteht nach wie vor der Bezug zum Quartier. Dieser sense of place ist inzwischen jedoch an zeitliche Abschnitte gebunden. Das zeigt einerseits, dass die Aneignung von derartigen Räumen zunehmend über individualisierte zeitliche Rhythmen realisiert wird. Andererseits wird deutlich, dass öffentliche Räume soziale Kontakte dann ermöglichen, wenn sie nicht als frei zugängliche, große Plätze verstanden werden, sondern wenn damit (teil)öffentliche Fixpunkte angesprochen werden, die ein Thema symbolisieren. Denn soll die Stadt als Bühne funktionieren, dann müssen Darstellende und Publikum zusammenfallen. Der Piazza-Effekt großer Plätze für öffentliches Leben wird überschätzt (Martinotti 1999). Stattdessen werden konkrete Punkte im öffentlichen Räume immer wieder neu mit Bedeutungen belegt – also angeeignet und damit bereits symbolisch teilprivatisiert. Diese Bedeutungen unterliegen damit einer ständigen Dynamik, in der sich im Schanzenviertel die Musikszene bisher zeitliche oder räumliche Nischen sichern konnte. Die Überlagerung ihrer raumzeitlichen Praktiken hat die Kultur allerdings wieder verstärkt zur Subkultur werden lassen und es bleibt kritisch zu beobachten, ob diese Prozesse schließlich in Verdrängung und Exklusion münden werden.
1 Dieses Beispiel ist in die Analyse raumzeitlicher Entgrenzungs- und Flexibilisierungsprozesse im Schanzenviertel sowie der damit einhergehenden Konflikte und Exklusionsmechanismen eingebettet. Dem liegt die These zugrunde, dass die zunehmende Nutzung des Quartiers keine soziale Mischung, sondern vielmehr Entmischung erzeugt. An dieser Stelle wird der Fokus beispielhaft auf die Rockmusikszene gerichtet, die sich im Schanzenviertel mit dem zentralen Treffpunkt der Kneipe Mutter konstituiert. Es wurden mit mehreren Akteuren aus diesem Umfeld Interviews geführt, auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Ihre neuen Strategien der Raumaneignung zeigen eine spezielle Form des Umgangs mit Verdrängungsprozessen.
2 Vor Ort wurde sogar noch das neue Existenzgründerzentrum für die Musikbranche KaroStar gebaut. Das kann als öffentliche Förderung der Musikbranche gedeutet werden. Zum Teil wird diese Maßnahme aber auch als reine Image- und Marketingstrategie kritisiert, da die Szene ohnehin schon im Umfeld angesiedelt war und außerdem nur Unternehmen gefördert werden.
Referenzen
Brenner, Neil (2000): The Urban Question as a Scale Question: Reflections on Henri Lefebvre, Urban Theory and the Politics of Scale. In: International Journal of Urban and Regional Research 24(2), S. 361-378.
Coesfeld, Franziska (2006): Eine Chance für die Schanze. In: Hamburger Abendblatt, 23.02.06. [http://www.abendblatt.de./daten/2006/02/23/536572.html, letzter Zugriff: 23.01.07].
Györffy, Hans-Joachim (1992): Hamburg. Berlin u.a.: RV.
Harvey, David (1990): Between Space and Time: Reflections on the Geographical Imagination. In: Annals of the Association of American Geographers 80(3), S. 418-434.
Martinotti, Guido (1999): A City for Whom? Transients and Public Life in the Second-Generation Metropolis. In: Bauregard, Robert A. u. Sophie Body-Gendrot (Hrsg.): The Urban Moment - Cosmopolitan Essays on the Late-20th-Century City. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. S. 155-184.
Tuan, Yi-Fu (2004): Sense of Place: Its Relationship to Self and Time. In: Mels, Tom (Hrsg.): Reanimating Places - A Geography of Rhythms. Aldershot, Burlington: Ashgate. S. 45-55.
Weiss, Christina (1999): Stadt ist Bühne - Kulturpolitik heute. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Interviews mit Akteuren aus der Musikszene Hamburgs
IV-MB: Martin Boeters; Schlagzeuger bei »Sport«
IV-FD: Florian Dürrmann; Bassist bei »Kante«
IV-BR: Benedikt Ruess; Betreiber »Revolver Club«, Schlagzeuger bei »Glacier«