Wild-West in Wilhelmsburg. Kitsch oder gegenkulturelle Intervention?

Nachbetrachtung zum Plenum im Pudelsalon

von Brigitta Huhnke



Die Leute strömten geradezu in den gediegen ausgestatteten Raum mit Elbblick. Das Bedürfnis nach Austausch scheint an diesem Abend im Pudelsalon groß zu sein. Die „Instrumentalisierung“ von Intellektuellen und auch der Kunstschaffenden für „stadtentwicklungspolitische Zwecke“ stand an, am Beispiel der IBA in Wilhelmsburg.
Ich war eher als Beobachterin gekommen, als eine, die sich wissenschaftlich mit Rassismus und Erinnerungskulturen nach dem Holocaust beschäftigt, Themenkarrieren in den Medien untersucht und dafür die Erkenntniskraft dekonstruktiver Lese- und Deutungspraxen zu schätzen weiß, die m. E. letztlich auch für avantgardistische, also aufdeckende künstlerische Interventionen in öffentlichen Räumen unverzichtbar sein sollten.
Ich war in diesem Abend aber auch als Zeitzeugin anwesend, als eine die sehr intensiv in den letzten knapp 40 Jahren in Hamburg und seit langem auch in New York mitbekommt, wie  Gentrifizierung aus rein ökonomischen Interessen gegen die Menschen durchgesetzt wird, auch und gerade mit Hilfe sogenannter Subkulturen. Als Beobachterin habe ich zudem relativ bald gespürt, wie groß die Desorientierung zu sein scheint, aber auch die Suche danach, sich als Kunstschaffende in dieser Stadt der Pfeffersäcke doch noch irgendwie verorten zu können, ohne dabei ganz die Identität verlieren zu müssen. Dennoch war ich persönlich auch geschockt, wie wenig Empathie gegenüber den Hauptbetroffenen, den Anderen, den Einwanderer_innen und den einheimischen Armen in Wilhelmsburg vorhanden zu sein schien.       
Eine Politik der Vereinnahmung auf allen Ebenen - auch der Kunst- gehört zu den weichen aber unbedingt notwendigen Strategien des Neoliberalismus, obgleich dabei selten mehr als grelles Event- Spektakel und Konzepte mit Lobgesängen auf die Zerstörung herauskommen, auch nichts anderes herauskommen soll. Alles ist willkommen, um einen Stadtteil so herzurichten, damit Immobilenfirmen dort hohe Mieten und  Verkaufspreise abschöpfen können. Aktuelles Zielgebiet der Eroberung, mit offensichtlich bereits wenigstens 100 Millionen Euro Steuergeldern als Anschubsfinanzierung: Wilhelmsburg – die lange vergessene Elbinsel. Und am 9.9. gab die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt stolz bekannt: „Der Senat hat bei seinen Haushaltsberatungen in der vergangenen  Woche erhebliche Mittel für zusätzliche Infrastrukturmaßnahmen im Rahmen des Leitprojektes „Sprung über die Elbe“ bereitgestellt. Insgesamt sollen von 2009-2012 in den Stadtteilen Wilhelmsburg, Veddel und Harburger Binnenhafen über 120 Millionen Euro im Rahmen  des „Sprung über die Elbe“ investiert werden.“ Die Menschen dort, die nun angesprungen und besprungen werden sollen, tauchen in dieser gestelzten Diktion nicht ein einziges Mal auf.
Überall in der westlichen Welt läuft Gentrifizierung - in den letzten zehn Jahren nicht selten mit „Globalisierung“ als Schicksal verschleiert -  nach dem gleichen Muster ab: In  heruntergekommenen Stadtteilen – in der Regel Resultate von De-Industrialisierung - dürfen sich die Armen erst einmal ansiedeln, was in der Regel heute in diesem Land auch Angehörige ethnischer Minderheiten sind. Dann irgendwann wird das Leben der Anderen als pittoresk wahrgenommen, (weisse) Künstler_innen nutzen die noch billigen Mieten und hoffen auf neue Ideen in exotischerem Umfeld, junge, künftige Wohlstandsbürger_innen wie Studierende, ein zahlungskräftiges Mieter_innenpotential von Morgen, ziehen nach. Spätestens dann sind Macher von Immobilienfirmen schon voller Gier, bearbeiten die politisch Verantwortlichen, die dann den betreffenden Stadtteil mit Steuergeldern aufpeppen. Mieten steigen, die Armen werden vertrieben.
Um zu verstehen, was hier in Hamburg abläuft, sollten wir kurz nach New York schauen, auch um die globale Dimension solcher sozialen und kulturellen Enteignungsprozesse stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Diese Art von Stadtpolitik hat mittlerweile New York, früher einmal eine der quirligsten Städte der westlichen Hemisphäre, mittlerweile fast den Lebensnerv durchschnitten: Anfang der 70er Jahre fängt die Zerstörung der Bronx an, wenige Jahre später wird Brooklyn Heights aufgepeppt, dann greift ab Ende der achtziger Jahre die neoliberale Zurichtung massiv in Downtown Manhattan, z.B. im West Village und im East Village ein, immer und grade auch mit Hilfe der Instrumentalisierung von Gruppen sogenannter (vor allem weißer) Subkulturen. Mittlerweile ist Manhattan neben seiner Funktion als Zentrum des Finanzkapitals und mit Disney Land Atmosphäre am Times Square zu einer einzigen Shopping Mall verkommen, mit immer mehr Billigprodukten aus Asien. Je nach Namen der Kettenfiliale, mal teuer, mal billig angeboten. Das jeweilige Label bestimmt den Preis. Das Straßenbild ist zudem durchsetzt mit Starbucks Filialen – mit mittlerweile absurdem Ausmaß. Von einer Handvoll abgesehen, mussten wegen der hohen Mieten alle unabhängigen Buchhandlungen schließen, zugunsten der Buchkette „Barnes & Noble“ (einige Jahre lang mit fast 40 Prozent Anteilen von Bertelsmann angeschoben), sehr häufig in Kooperation mit Starbucks - ein einziger Anschlag auf individuelle Lesefreuden, wie das allgegenwärtige Junk Food auf den Körper. Die künstlerische Off-Szene ist mehr als angeschlagen. Der Underground scheint mausetot, die RAP culture, die sich mit den De-Industrialisierungsprozessen Anfang der siebziger Jahre entwickelte, völlig enteignet und entwertet. Das Galerie-Unwesen treibt Blüten und weiter die Mieten hoch. Seit längerem schon werden nun auch Harlem sowie viele weitere Teile Brooklyns (für sich gesehen ist das  die zweitgrößte Stadt der USA) erobert, auch einige der von karibischen Einwanderern seit vielen Jahrzehnten geprägte Stadtviertel für den Immobilienmarkt zugerichtet, karibische Familien ziehen aus, Weiße, unter ihnen besonders viele der finanzkräftigen „Trust Fund Babys“ (Erben der Baby Boomers) ein. Teile des stark jüdisch geprägten Williamsburgs sind bereits zerstört, auch dank europäischer Neo-Hipsters, die in den 90er dorthin strömten. Aktuell schlagen die Vertreibungen bei den Menschen in Brighton Beach und Coney Island hohe Wellen. Die dort bisher noch einigermaßen mietpreisgebundenen Apartmenthäuser sollen nun an Reiche aus aller Welt gewinnträchtig verscherbelt werden, die morgens gern mit Blick auf den Atlantic in New York City aufwachen möchten. Leidtragende sind Angehörige der aus Osteuropa in den letzten Jahrzehnten eingewanderten jüdischen Minderheiten sowie African Americans und Latinos. Der alte Vergnügungspark Astroland in Coney Island, seit etwa einem Jahrhundert Ausflugsziel von Arbeiterfamilien fällt der Gentrifizierung nun endgültig zum Opfer. Am 7. September drehten sich dort am Atlantik die vielen Karussells, das berühmte Cyclon und Dante’s Inferno zum letzten Mal.
Die Gruppe „Rev. Billy and the Church of Stop Shopping“, seit Jahren gegen Gentrifizierung aktiv und deshalb unzählige Male Opfer brutaler Polizeigewalt, viele von ihnen selbst aus Brooklyn stammend, hatte hier mehrfach vor Ort mit Performances die Bevölkerung unterstützt. Am Tag  nach der Schließung schreiben  sie: 
“These are the out of control last days of the Bloomberg administration, as fat cats are dealt parks and neighborhoods and air-space in large-scale privatizations.  We are witnessing a time in our city’s history that will be called corrupt.  We will know better after it’s too late.  Meanwhile, what will be left of New York City?  The condos, big boxes and hotels that are slated for Coney...this is what in our church we call, “The Sea of Identical Details, the Demon Monoculture!”  Our town will be simply suburban, provincial, the culture all borrowed.” Bleibt abzuwarten, wann der Bevölkerung auch noch verboten wird, den Strand zu benutzen. Angriffe auf den Stadtteil Queens, mit den weltweit vielleicht meisten Gruppen von Minderheiten, ca. 130 allein im Viertel Jackson Heights, stehen unmittelbar bevor. In der Bronx werden derzeit wieder Neo-Hipsters angesiedelt, die Mieten steigen. Eine ganze Stadt wird so sukzessive zerstört, die betroffenen Bevölkerungsgruppen müssen weichen oder leben in drangvoller Enge. Schon in der Vorhut dieser Vertreibungen ziehen neben Filialen von Kaffeeketten immer Kunsthandwerk und Kitsch aller Art im Troß mit.
Was hat das mit unserer Stadt zu tun? Nun, Hamburg steht für die Couponabschneider dieser Welt ganz oben auf der Liste der begehrtesten Städte. Außerdem erzeugen nicht nur die Imitate der New Yorker Polizeiuniformen, die unsere Ordnungskräfte Ronald  B. Schill verdanken, bei mir permanent ein Déjà vu.
In Hamburg nahm eine ähnliche Entwicklung Anfang der siebziger Jahre (fast zeitgleich mit den ersten rabiaten Sanierungen am Hafen) in Eppendorf ihren Lauf, besonders in den ärmeren Straßenzügen: viele Armen ließen sich „freiwillig“ aussiedeln, nach Osdorf, Mümmelmannsberg, Steilshop, ihre alten Wohnungen wurden saniert. Die Mieten stiegen, trotz vieler Proteste und besetzter Häuser. Studierende gründeten WGs, Eppendorf war „in“. Die vielen Kneipen und Restaurants, die nun in Massen aufmachten, sind heute bis auf die gerade „angesagten“ oft leer, viele haben schon zigmal die Besitzer_innen gewechselt. Da, wo früher die Musikkneipe „Onkel Pö“ bis 1980 wenigstens noch ein bisschen das musikalisch Neue anzog, kann die Beobachterin heute bei gutem Wetter schon beim Vorbeigehen überwiegend Männern dabei zuschauen, wie sie Fleischberge der Filiale der Kette „Schweinske“ in sich reinschaufeln. Auf der heute mehr oder minder toten Eppendorfer Landstraße hat die Kaffeekette Balzac gleich zwei Filialen eröffnet. Die kleinen Feinkostgeschäfte, kleinen Konditoreien, viele andere Fachgeschäfte, fast alle haben aufgeben müssen, wegen der hohen Mieten, zugunsten von Backketten, von Billigfriseuren, die oft – wie Nomaden- nach nur einigen Monaten in andere Stadtteile weiterziehen, da unter anderen Namen bzw. Logos  weitermachen. Was für eine Öde. Auch der Eppendorfer Baum, der halb zu Harvestehude gehört, ist kulturell völlig runtergekommen: Outlet Stores, zig Filialen von Backketten, ebenso Friseursalons. Aber: allein zwischen Klosterstern und Hochallee (nur ein Straßenblock) haben in den letzten Jahren auch vier (!) Immobiliengeschäfte eröffnet, die offensichtlich noch immer gut zu tun haben. Noch Anfang der neunziger Jahre tätigten allein auf diesem kurzen Straßenstück beispielsweise zwei Läden für Kolonialwaren ihre Geschäfte und die Kundin hatte die Qual der Wahl, sich nicht nur zwischen Dutzenden von Kaffee- und Teesorten sondern auch feinsten Pralinen und wohlschmeckendem Gebäck entscheiden zu müssen. Statt exotischer Gerüche schon vor den Ladentüren, nun im Vorbeigehen der Gestank aus den Backkettenaufbackautomaten, der sich oft noch mit den Ausdünstungen der Synthetikklamotten anderer Läden vermengt. Überhaupt: nichts mehr erinnert hier an die alte gediegene Hamburger Lebensmittelkultur.
Auch das Schanzenviertel, das Karoviertel, St. Georg oder Ottensen zeugen von mehr als 20 Jahren Zurichtung durch Gentrifizierung: Viele Angehörige von Minderheiten sind vertrieben, am Wochenende kommen die Vorstädter, „Coffee-to-go“ Unkultur an mehr als jeder Ecke, Schund und Tand in Billigläden, Kettenläden, billiger Modeputz in teuren Boutiquen. In St. Pauli fallen am Wochenende Herrenhorden, jung und alt, aus allen Ecken der Stadt und des Landes für ihre Hauptvergnügen ein: Saufen, Ficken, Wasser abschlagen. Lärm, Gestank und  immer auch ein Schaulaufen leitkultureller Fettsucht. Vor den Diskotheken wird nicht deutsch Aussehenden der Zutritt verwehrt: in acht von neun Fällen, wie selbst das Hamburger Abendblatt eigenen Recherchen zufolge am 8.9. empört feststellen musste und am 9.9. noch mal mit einem großen Bericht nachlegte. Viele der „normalen“ St. Paulianer_innen,  zu denen auch viele mit türkischem oder afrikanischem Hintergrund gehören, trauen sich am Wochenende rund um die Reeperbahn nicht mehr auf die Straßen. Sie profitieren so gar nicht von dem Boom, fürchten vielmehr weitere Mieterhöhungen. In der Woche dann die Leere, diese unbeschreibliche Hässlichkeit. Alles Subversive, was der Kiez bis weit in die achtziger Jahre durchaus immer auch noch hatte, scheint fast völlig verschwunden.
Und jetzt ist „Das Tor zur Welt“ an der Reihe, Wilhelmsburg, der Stadtteil mit dem höchsten Anteil von Minderheiten in Hamburg und vielen anderen armen Leuten der Mehrheitsgesellschaft, viele arbeitslos, ohne Perspektive.

IBA und Willhelmburg waren zwar schnell die zentralen Themen auch am Abend im Pudelsalon. Aber einem großen Teil der Anwesenden schien weniger die Vereinnahmung von Kunstschaffenden und Intellektuellen sowie Fragen des künstlerischen Selbstverständnisses zu interessieren, als viel mehr ganz konkrete Probleme: Wie komme ich an Gelder, wie verhält sich die Stadt bzw. das Unternehmen IBA bei der Vergabe von Projekten. Und noch eines wurde mir schnell deutlich: Von den Betroffenen, den Bewohner_innen schien niemand anwesend zu sein, insbesondere niemand von den dort lebenden ethnischen Minderheiten. Kunst für Wilhelmsburg. Für wen und warum?  Kann die Subalterne auch in solchen Räumen noch immer nicht sprechen?  Hat sie auch in vermeintlich subkulturellen Foren noch immer kein Rederecht? Was sind die Gründe, warum sie sich dieses auch nicht aktiv holt?  Hafenstraße, Rote Flora, auch da fehlten die „Subalternen“. Das scheint in dieser Gruppe im Pudel ebenfalls nicht einmal als Problem erkannt zu sein. „Die können ja mitmachen“, war zu hören. Mitmachen bei was? Scheint auch bei Kunstschaffenden dieser Stadt, zumal bei denen der kleinen Kunst und überwiegend selbst prekär lebend, nichts von den interkulturellen Debatten, wie sie zumindest in anderen westlichen Ländern geführt werden, bisher angekommen zu sein? Soll hier erneut ein armer Stadtteil mit Hilfe eines von außen kommenden Kunstprekariats, das sich nicht auf die Bevölkerung vor Ort einlassen und mit den Menschen dort nicht leben will, bekunstet werden?
Was aber ist Kunst ohne die Betroffenen? Nur mit ihnen zusammen lässt sich genau die  Widerständigkeit erzeugen oder wenigstens Brüche in der Wahrnehmung des Gewohnten provozieren, was m. E. nun einmal zum Wesen von Kunst gehören sollte. Bei allen anderen Versuchen kann nur Kitsch herauskommen, wenig mehr also als Beiwerk politischer Propaganda und des Kommerz, intellektuell und ästhetisch fad, politisch aber durchaus folgenreich. In dieser Hinsicht haben besonders die Deutschen eine berüchtigte Tradition, denn die NS-Zeit kann auch als Epoche der größten Kitschproduktion gelesen werden. Der „Widerschein des Nazismus“ ist immer noch gegenwärtig, auch und grade in der Kunst und benachbarten Feldern (z.B. beim Spektakel zur Schiffstaufe der AIDA  am 20. April (!) 2007 oder das Tamm-Museum sowie in Filmchen wie „Der Untergang“ oder die ganzen „Das Wunder von….“ Schnulzen). Saul Friedländer hat dieses Phänomen „Kitsch und Tod“ bereits in den achtziger Jahren, auch und gerade an sogenannter fortschrittlicher Kunst bedrängend gezeigt, in einer Zeit also, in der noch sehr viel mehr Kritikfähigkeit auch in der BRD „angesagt“ war. Kitsch ist nicht nur bloß ohne Inhalte, vielmehr scheinen im Kitsch auch immer die Verleugnungen auf, nicht nur die Verleugnungen der Geschichte, sondern auch die der Klassenverhältnisse und des Rassismus. Kitschproduktionen sind zudem selten geschlechtergerecht. Selbstverständlich ist die gesamte Sprachgebung der IBA konsequent Frauen ausschließend gehalten bzw. nach patriarchaler Lesart sind Frauen in männlichen Bezeichnungen mitgemeint. Und das in einem Land, in dem deutsche Männer immer ganz beflissen die fremde Frau vor dem „fundamentalistischen Islam“ retten wollen, - bis nach Afghanistan ziehen sie deswegen.
Was hat die IBA anzubieten? Von Inhalten ist auf der Website nichts zu lesen, die Bevölkerung von Wilhelmsburg scheint nie wirklich gefragt worden zu sein. Dafür purzeln Wortschöpfungen über die IBA Webside und in anderen öffentlichen Verlautbarungen von IBA und Stadt. So wird  eine „neue Qualität von Kultur“ angestrebt (Leitkultur? Welcher Art war die alte?), Wilhelmsburg soll eine „Kosmopolis“ werden, wahlweise sogar ein „Weltquartier“. Von „Leitthemen“ (im Sinne von Leitkultur?) ist die Rede, von einer „Börse für Kompetenzen und Talente“ und natürlich von „Bildungsoffensive“, „Zukunftspotentiale“ werden beschworen. Aber besonderes toll treiben IBA Schreiberlinge ihr Schindluder mit dem Wort „Werft“. Da haben wir die „Chancenwerft“, die „Kreativwerft“, eine “Bildungswerft“. All das soll in „Metrozonen“, und mit „Metrogefühl“ stattfinden, ein „Leuchtturm der Sinne“ wird herbeigeredet und „Ausflüge des Denkens“ sollen einladen. Kurzum im Denglisch wird eine „Mission“ nach Wilhelmsburg gebracht. Inhaltsloser Sprachverhau: diese Sucht, Komposita zu basteln, die Putzigkeit solcher und anderer Neologismen, alles ungelenk in Passivkonstruktionen gefercht, immer ohne klares Benennen der Akteur_innen, der Nutznießenden sowie Verlierer_innen. Dieser Jargon erinnert an die aufgepumpte und doch so gewalttätige Sprache aus dem Hause Bertelsmann, die auch jede Rede der Kanzlerin oder die Reden der SPD-„Reformer“ bis zur Groteske verunstaltet. Die Website der IBA ist zudem schauderhaft dilettantisch und unvollständig. Großspurig wurde auch eine englische Version produziert, aber natürlich keine türkische. Versuchen die Macher mit ihrem IBA-Jargon so das eigentliche Ziel zu verschleiern, so liest sich das Ganze auf hamburg-web.de, wo Wilhelmsburg als IBA Projekt wohlwollend beworben wird, schon deutlich brutaler:
„Das zu bearbeitende Gebiet umfasst 26,5 Quadratkilometer mit etwa 50.000 Einwohnern und einen Ausländeranteil von 53 Prozent auf der Veddel und 34 Prozent in Wilhelmsburg. Der hohe Ausländeranteil wird aufgebrochen mit der Ansiedlung von Studenten, denen vergünstigter Wohnraum von der stadteigenen Wohnungsbaugenossenschaft SAGA angeboten wird, 70 Quadratmeter für 450,- Euro. Den Pionieren sollen weitere Neubürger folgen, Künstler, junge Familien, Investoren etc. Die Gentrifizierung mit all ihren Vor- und Nachteilen ist damit eingeleitet.“
Bereits Mitte der sechziger Jahre hat der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ angeprangert und den Wandel von Öffentlichkeit auch gerade als Folge des Faschismus kritisiert: „Diese Öffentlichkeit kehrt sich heute verwandelt als psychodynamisch fundierte Manipulation, als ‚Öffentlichkeitsarbeit’ gegen die Subjekte, aus deren lebendigem Geist sie einst entstand.“ 
Ein weiterer Vertreter des journalistischen Gewerbes reagierte auf Kritik von KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen am IBA Treiben im „echo“ mit solch Gestelze: „Mag sein, dass das "Kapital" die Kunst nutzt. Aber wann ist eigentlich das Vertrauen in die subversive Kraft der Kunst verloren gegangen? Selbst einfach nur „Spaß“ auf Kosten des „Kapitals“ wäre doch schon was. Jedenfalls mehr als fundamentalistische Opposition gegen jegliche Manifestation, der Ambivalenzfähigkeit gar nicht mehr unterstellt wird, geschweige denn überprüft. Und außerdem ist es geradezu feige, „die Kunst“ zu prügeln, wenn man „das Kapital“ meint.
In der Tat soll solcher „Spaß“ in Wilhelmsburg nun wohl dauerhaft Einzug halten, zum Entsetzen der AnwohnerInnen. Vor Ort, in Wilhelmsburg hat die Subalterne zwar auch noch lange nicht das Gesetz des Handelns in der Hand. Aber die Bevölkerung scheint wenig angetan von diesem geballten Angriff, dem „Sprung“ auf und in ihre Lebensverhältnisse. Manche – zu wenige noch – wehren sich lautstark, die meisten aber kommen einfach nicht zu den Events, mit denen die IBA die Menschen beglücken will, vielmehr steigt die Wut. Nach einem „Dockville“ Event, mit aus der ganzen Republik zusammengekarrten Bands und einem zusammengezimmerten „Westerndorf“(!) schrieb ein Mitglied der Gruppe „Suedbalkon“ bei „echo“: »eine impression vom vergangenen sonntag in wilhelmsburg: neben einem gebaeude...viel zu teuer fuer jeden wilhelmsburger...seit jahren...da hiess es noch "der glaskasten"...steht es leer...nun wurde es von "kultur natur" angemietet und in "die tonne" umbenannt. daneben sitzen wilhelmsburger und rufen: "lasst eure scheiss kohle hier und haut endlich ab aus wilhelmsburg!" stundenlang geht das. spaeter machen wir einen spaziergang, gehen vorbei an dem gelaende, wo einen frueher zahllose voegel und andere kleintiere begruessten, das nun leer und plattgemacht ist von den fuessen von dockville besuchern. wir gehen weiter und kommen an der immer noch rufenden gruppe vorbei und dann an der tonne.
in dem grossen raum 'der tonne' sitzt verlassen eine frau mit blonden locken mit dem ruecken zum fenster. sie liest ein buch. sonst ist da niemand drin. wir gehen weiter und sehen die teilweise umgetretenen plakate der aktion 'kultur natur'. eines schwimmt neben dem anderen unrat in dem kanal, dessen wasserqualitaet von kuenstlern in kunstprojekten untersucht wurde. aha, moechte man sagen. die meisten hier aber sagen: immer mit der ruhe. diese kuenstler ziehen hier nur kurz ihr ding ab und dann sind sie wieder verschwunden. andere, denen bereits die mieten erhoeht wurden, bemerken die nachhaltigkeit, an der hier gearbeitet wird.«

Mein Eindruck am 6. September vor Ort war ganz ähnlich, mit großem Popanz war der „Projekttag IBA Erleben“ angekündigt worden, und nur ganz wenige kamen. In der Grundschule spielten und turnten zwei Dutzend Kinder, ein paar Luftballons stiegen auf. Nicht einmal alle Lehrerinnen und Schüler_innen sollen informiert worden seien. Gähnende Leere im Festsaal des Gymnasiums und auch draußen wollten sich die Massen nicht einfinden. So musste sich der IBA-Geschäftsführer vor einem IBA Logo ohne Menschen von einer Fernsehstation interviewen lassen. Auch auf dem Berta-Kröger-Platz waren keine Massen zu sehen. Ich rätsele bis heute: Waren hier Zynismus, Ignoranz oder Dummheit am Werk? Oder wundern sich die Verantwortlichen vielleicht immer noch, warum noch weniger MigrantInnen als im August anwesend waren? Am 1. September hatte der Ramadan angefangen und auch in diesem Land fasten dann einen Monat lang Millionen von Muslim_innen tagsüber und brechen nach Sonnenuntergang das Fasten mit opulenten Mahlen im Kreise der Familien. Das ficht aber die sich so weltmännisch gebenden IBA-Macher überhaupt nicht an. Gleich am Wochenende drauf soll es weitergehen: „Vom 16. August bis zum 14. September 2008 findet der Elbinsel Sommer als künstlerische und kontextuelle Ausstellungsplattform unter dem Titel „Kultur | Natur“ in Hamburg-Wilhelmsburg statt.“ Was um alles in der Welt ist Kultur | Natur? Mehr als nur der strunz-dumme patriarchale Dualismus von Kultur-Natur, der nun seit mittlerweile drei Jahrzehnten in philosophischen, besonders aber auch in interkulturellen Debatten wenigstens begründet werden muss? Wir lesen: „Kultur | Natur setzt auf eine bewusste Interaktion mit dem Stadtteil und will Anwohner und Besucher auf verschiedenen Ebenen ansprechen.“ Wer genau setzt, wer interagiert mit wem, wer will ansprechen? Das ganze soll an einem der Abende mit Grillen enden! Mit Schweinefleisch und Schweinswurst? Eine Freundin, die seit Jahrzehnten bundesweit in der interkulturellen Szene und auch in interreligiösen Zusammenhangen tätig ist, wissenschaftlich und beratend, schrieb mir dazu: „Es ist geradezu kabarettreif, in Wilhelmsburg mitten im Ramadan ein Fest ‚mit unseren lieben ausländischen MitbürgerInnen’ veranstalten zu wollen. Wie wäre es mit dem Ausweichtermin 24. Dezember?“

Kunstschaffende in dieser Stadt sollten sich klar entscheiden, ob sie Kitsch für eine weitere, noch gigantischere Vertreibungsaktion zuliefern wollen oder aber ob sie wirkliches Interesse an und Sorge um die vom Klimawandel besonders bedrohte Elbinsel haben. Dann sollten sie zunächst einmal als Lernende die Lebensverhältnisse der Menschen kennen lernen wollen, um so vielleicht gemeinsam Antworten auf Gentrifizierung und Zerstörung finden zu können.

Geschichtlich wäre mit Mitteln der Kunst ebenfalls viel aufzuarbeiten: Rassismus hat auch in Wilhelmsburg eine unrühmliche Tradition. So wurden hier am 13. Mai 1944, in der sogenannten Chinesenaktion, 165 Chines_innen in das Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg verbracht, mindestens 17 von ihnen hat die Gestapo zu Tode gefoltert, wie viele dann noch in anderen Lagern umkamen, ist bis heute ungeklärt; die Schergen haben alle Akten verbrannt. Ein Gedenken scheint mit Worten kaum möglich, vielleicht aber eine künstlerische Auseinandersetzung, die auch ein Nachdenken über die Missachtung des Anderen noch in der Gegenwart einfordern könnte. Demut der Solidarität stünde an. 

Trotz aller Kritik war für mich der Abend im Pudelsalon ein guter Anfang und niemand dort, wollte Kunst lediglich als „’Spaß’ auf Kosten des Kapitals“ herabwürdigen. Da aber das Kapital derzeit keine Ruhe gibt, alles auszusaugen, auch (vermeintliche) Kreativität aus den letzten künstlerischen Zusammenhängen, sollte die Debatte unbedingt weiter gehen. Wir brauchen ganz einfach – neben gezieltem politischen Handeln gegen neoliberale Zerstörungswut -  auch wieder gegenkulturelle Zusammenhänge, nicht zuletzt, um auch so weiteren Schaden von unserer Stadt abzuwenden und Anschluss an planetarische Bewegungen zu finden.  

Kommentare [3]
vau schrieb am 15.09.2008 11:19

Vielen Dank für diesen wirklich tollen Artikel. Er spricht mir in Vielem aus der Seele.
Nach einigem Anfangs"erfolgen" im vergangenen Jahr scheint sich die IBA so langsam tot zu laufen. Das Desinteresse der Anwohner spricht laut und macht Hoffnung.
Erschreckend fand ich auch, dass bei Versammlungen im Stadtteil der Ansatz die IBA zu boykottieren und als Künstler auf die Kohle lieber zu verzichten, als sich für unlautere Ziele kaufen zu lassen, überhaupt nicht als gangbarer Weg angesehen wurde.

ChrM schrieb am 15.09.2008 11:26

Mit großem Interesse gelesen: vielen Dank für diesen höchst informativen Artikel.

missypaulette schrieb am 01.10.2008 01:19

vielen Dank für diesen sehr guten Artikel! Auch weil er über das Tor zur Welt hinausweist ("Hamburg ist eben nur das Tor"; Zitat von Karl Lagerfeld)und Einblicke in andere Teile dieser Erde gibt. Ein weiteres Beispiel ist das Private-Public-Partnership-projekt des Auswander-museums auf der Veddel: satter Eintritt von 9,50 € und keinen inhaltlichen Bezug zur heutigen Bevölkerung der Veddel; so etwas wie: "Auswanderung früher- Einwanderung heute." ach, ja, den Eintritt können DIE sich ja eh nicht leisten....

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