Operation Tagedieb oder die Kunst der Brachlegung
von Ulrich Mattes
Wir sind es gewohnt – und so sind die Verabredungen für einen »intellektuellen« Text – komprimiert durch die Argumentation zu hasten. Ähnlich einer Fahrt mit der U-Bahn, steigen wir an den angezeigten Haltestellen selten aus, sondern fahren durch bis »Fazit Gelesen«. Dieser Text dagegen soll ein Streifzug ins Blaue werden. Er dauert so lange, wie es Sie kostet, durch die verstreuten Buchstaben zu wandern, bei den Marginalien einzukehren und den mitgelieferten Bildern Einsichten abzuringen. Sie sollten also im Anschluß an das Lesen dieses Artikels heute nichts mehr vorhaben – außer vielleicht noch mal mit dem Hund raus ...
Spezifizierende Titel wie »Spaziergang«, »Promenieren«, »Flanieren« oder »Ausflug« werden hier aufgrund ihrer historischen Überladenheit möglichst unterbleiben. Wir streifen durch geistige wie realräumliche Gebiete (und mehr auch nicht) die an den Rändern sogenannter Kulturerfahrung zu finden sind. Wir bewegen uns in der Metropole Hamburg und es liegt in der Natur der (Stadt)Landschaft, dass wir vor Wiederholungen nicht verschont bleiben. Zufällig auftauchende Umstände, die durch vergangene Kulturinformation erst wahrnehmbar werden, bringen Gelegenheit zu kleinen Ausschweifungen, die geeignet sind, uns zukünftig von der Einkehr in traditionelle Zwickmühlen abzuhalten (sei der Durst auch groß) und abschließend ein eher zufälliges Landschaftsbild zu »erinnern«, das offen für individuelle Gegenwartsbeschreibungen bleibt.
Im Gepäck das Buch »Warum ist Landschaft schön?« von Lucius Burckhardt brechen wir auf zu peripheren Orten. Zur Orientierung dient uns der Begriff der Brache und wir streifen seine mögliche Bedeutung für die Off-Kultur und andere Teilöffentlichkeiten, wir treffen Vertreter/innen Hamburger Wohnungsgenossenschaften [1], schauen uns auf der Suche nach Landschaft unter anderem in einer Ausstellung um, spulen in Spielfilmen, besuchen einen Maler und entwerfen eine Schnitzeljagd durch Hamburg Stadt, an der jede/r Leser/in teilnehmen kann.
Das Gepäck
In seinen Vorträgen und Aufsätzen zwischen 1977 und seinem Tode 2003, veröffentlicht unter dem Titel »Warum ist Landschaft schön?« [2], ermittelt Lucius Burckhardt in Sachen Landschaftserfahrung. Mit der »Promenadologie« (engl. »Strollology«), der Spaziergangswissenschaft untersucht er – auch mit künstlerischen Mitteln – die aktuellen Wahrnehmungsgewohnheiten im physischen öffentlichen Raum zwischen Alltag und touristischem Habitus.
Zunächst: »Nie hat man sich so sehr um die Ästhetik der Umwelt gekümmert wie heute; nie waren so viele Kommissionen mit Bewilligungsverfahren beschäftigt (...)"« und nie entwickelten so viele Künstler/innen Fantasien zur Gestaltung dessen, was wir im weitesten Sinne Öffentlichkeit nennen, möchte man ergänzen. »Aber trotz aller Schutzbestimmungen (...) wächst ständig die Klage über die Verhässlichung der Umwelt und die Zerstörung der Landschaft.« [3] Denn: »Zu vielen wichtigen Bauwerken kommt man tatsächlich auf ähnliche Weise wie der Fallschirmspringer, nur eben von unten, nämlich aus der U-Bahn.« [4] Schauen wir uns »in jenen unendlichen Zonen um, welche wir die `Metropole´ nennen können. Es sind die Zonen, wo die Stadt gerne Land sein möchte, wo jeder, ob er nun ein Wohnhaus oder eine Fabrik errichtet, sich mit möglichst viel Grünem umgibt, und anschließend die Zonen, wo das Land gerne Stadt werden möchte, wo jeder Bürgermeister einer Ortschaft einen Investor sucht (...). In diesen, von den meisten Menschen bewohnten und besuchten Zonen unserer Lebenswelt ist der promenadologische Kontext, der zum Verständnis des Gesehenen führt, zusammengebrochen.« [5] Unsere Landschaftserfahrung fußt auf längst vergangenen Parametern der Vermittlung: »Diese kulturelle Vermittlung ist in der Regel eine Anleitung zur Selektion, also zur Ausfilterung von Eindrücken«, [6] die wir über die historischen Formen der Landschaftsgestaltung und ihrer Verwendung in der Kunst und in der Reiseindustrie reproduzieren. Die touristischen Zentren proklamieren weiterhin eine Strategie der Sehenswürdigkeiten, in Hamburg sagt man Leuchttürme dazu, die selten für eine angrenzende Raumerfahrung geeignet ist: Sie ist für eben jene »Fallschirmspringer« entworfen, für Touristen, Wochenendshopper, kaufkräftige Zuzügler oder für einen Wettbewerb des »Schönen«. »Wenn es nur eine Lösung gibt – dann ist das die Welt des Funktionalismus. (...) hört auf Brillen zu designen«, [7] bittet uns Lucius Burckhardt.
Innerstädtischer Raum ist kostbar: Die letzten Baulücken (und was dazu erklärt wurde) werden geschlossen und kommunaler Grundbesitz wird privatisiert, die »Erfahrungswege« durch die Stadtlandschaft werden neu strukturiert. »Wir sind die erste Generation, die eine neue, eine promenadologische Ästhetik aufbauen muss. Promenadologisch deshalb, weil der Anmarschweg nicht mehr selbstverständlich ist, sondern weil er im Objekt selbst, darstellend, reproduziert werden muss.« Der unvermittelte Raumentwurf, nach dem architektonischen Motto »Wo kein Ort ist, kreiere ich selbst einen Ort«, [8] reicht da nicht aus. Eher hinderlich für diese Erkenntnis erweist sich, daß heute gärtnerisch so gut wie alles machbar ist, wie die Inserate der Gärtnerzeitschriften zeigen: »Was da angeboten wird, umfaßt neben den Zwerggehölzen und den Kunst- und Natursteinen alle jene chemischen und mechanischen Mittel, welche das Anpflanzen des falschen Bewuchses am falschen Ort ermöglichen. Dieser Markt, der stets darauf bedacht ist, hohen Verschleiß mit geringem Arbeitseinsatz zu kombinieren, beherrscht über seine Medien und Organe, zu welchen auch die Bundesgartenschauen gehören, die gesamte öffentliche Gärtnerei. Damit werden gegenläufige Tendenzen erfolgreich zum Dilettantismus gestempelt, denn die Profession ist daran interessiert, überkommenes Gartenwissen zu entwerten, den Hobbygärtner zu verunsichern und ihn hilflos dem sogenannten Fachmann auszuliefern.« [9] Nur selten werden durch die Anrainer Orts- und Handlungsbezüge entwickelt. Ist etwas Budget vorhanden, werden zur Begrenzung der Abstandsflächen zwischen den Immobilien nichtssagende Exotika implementiert, die ihre »Falschheit« durch »Schönheit« zu kaschieren wissen – wer könnte da noch etwas dagegen haben! Extemporate als Bindeglieder, »die Überleitungen am Klavier besorgte ...«. [10] Die Regel jedoch sind nackte Grünflächen mit dichtem Grenzgebüsch.
Ja, Hamburg ist eine Stadt mit überdurchschnittlich viel Grün, auch im Kleinen um die Ecke. Die Betrachtung kann daher an anderer Stelle ansetzen als in dichter bebauten Ballungsräumen: beim Selbstverständis der Nutzung der Grünflächen, denn das »Gehen« in all seinen Ausformungen [11] wird weiterhin gewaltig unterschätzt und »Verweilen« ist nicht nur ein stummes Sitzen.
Entdecken
Wenden wir uns mit der Behauptung, jung geblieben zu sein, der innerstädtischen Landschaftserfahrung im Kindesalter zu, darunter dem Abenteuerspielplatz. Er ist in den Zentren notwendig geworden, um künstlich eine Erfahrungswelt zu reinstallieren, die zuvor wegsaniert wurde. Und »die Spielplatzidee geht von der Vorstellung aus, kindliches Verhalten sei ähnlich strukturiert wie das Verhalten Erwachsener, die irgendwohin gehen, um eine Tätigkeit auszuüben.« [12] Unbeabsichtigt entstehende "Spielplätze" werden sicherheitshalber gesperrt.
Brache in Hamburg-Bahrenfeld, Fotos: um
Räumliches Entdecken heißt, irgendwo hin zu gelangen, anhand interessanter Wegemarken genau auszumachen, wo man sich befindet, um dann wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren zu können. Kontinuierliches Entfernen vom Zuhause, mit jedem Mal ein bißchen weiter, und schnell retour in die heimische Geborgenheit, sobald es zu unheimlich wird, das wäre das Ideal – angefangen beim Versteckspiel hinter den vor die Augen gehaltenen Händen und mündend im elterlichen Vertrauen auf die erlernte Selbstständigkeit des Nachwuchses, auch wenn er aus dem Sichtfeld verschwindet.
Abenteuerspielplatz und Bahndamm Langenfelde, Fotos: um
Anke Finger: »Bei der Gestaltung des Abenteuerspielplatzes beispielsweise waren die Jugendlichen von Anfang an dabei, haben über Beteiligungsrunden und Fragebogenaktionen der Landschaftsarchitekten mitentschieden, was gemacht werden soll. Darüber hinaus hatten einige Anwohner grundlegende Bedenken gegen das Projekt wegen zusätzlicher Lärmbelästigung ... Dennoch finden auch dort immer wieder Zerstörungen statt.«
Katarzyna Nowak: »Vielleicht ist die Identifikation mit dem Objekt nicht groß genug, solange die Jugendlichen nicht aktiv mitgebaut haben?«
Das Erfahrungspotential an sicherheitsplakettiertem Spielgerät ist naturgemäß begrenzt. Eine grundlegend »neue« Erfahrung bietet da tatsächlich die mutwillige Überarbeitung. »Die Jugendlichen halten sich besonders gerne in der Nähe der Bahngleise auf«, so eine Sozialpädagogin des Abenteuerspielplatzes in Hamburg-Langenfelde. »Das kommt wohl daher, daß sich dort das Fernweh, der Wunsch auszubrechen als Ort manifestiert«. Die »Gefahrenherde« wurden daraufhin konsequent gesichert. Die Jugendlichen treiben nun zwischen den angrenzenden Kleingartenanlagen ihr Wesen. Dort werden sie beim Anlegen einer Kanabis-Plantage entdeckt und die Gemeinschaft der Schrebergärtner/innen geht ab sofort verstärkt Patrouille. Nun hängen die Jugendlichen – aller interessanter Treffpunkte und Forschungsfelder beraubt – an der S-Bahn rum und ängstigen durch ihre Präsenz ältere Damen. Tagediebe!
Simone Zückler: »Da gibt es ja noch so ein unwirtliches Gelände direkt am Bahndamm beim Nieland. Da ist mir Abends doch ein wenig mulmig, wenn ich da alleine durchgehe ... ist ja auch so ein Treffpunkt dort.«
Anke Finger: »Wir haben die Bahn schon mehrmals aufgefordert, dort den verwilderten Bahndamm angemessen herzurichten - bisher ohne Antwort. Wir selbst können da nicht viel tun, da das nicht zu unserem Gelände gehört.«
Joachim Thorns: »Die 'Empfindlichkeiten' sind in den letzten Jahren extrem gestiegen. Die Toleranzgrenze ist sehr gesunken.«
Simone Zückler: »Die Älteren fürchten sich oft vor den Jugendlichen, das ist ein Problem. Wir haben auch mal Ärger wegen Vandalismus ...
Wichtig wäre, daß die beiden Altersgruppen wechselseitig ihre 'Sprache' verstehen lernen. Das nimmt den Alten die Angst und fördert die Achtung der Jungen vor deren Lebensweg.«
Die großen Schlaf- und Wohnstädte in den Peripherien der Metropolen bieten wenig fließende Übergänge in fremde Welten und die Erfahrung vielschichtiger (Stadt)Landschaften ist auf seltene Ausflüge beschränkt, sofern man sich diese zeitlich oder finanziell leisten kann. So bleibt für die Kleinen häufig nur die Entscheidung »zuhause« oder »auswärts«. Die Traumata am ersten Kindergarten- oder Schultag sind Legion, das Gegenstück die Quengelei in der Nähe junger Mütter, im Dunstkreis unbekannter Gefahrenherde und dessen, was sich schickt und was nicht. Hundebesitzer haben es da leichter. Ein kurzer Ruck an der Leine genügt: »Bei Fuß!«
»Eckstein Eckstein, alles muß versteckt sein, eins zwei drei ... Augen auf ich komme!« In der heutigen Verlegenheitsbegrünung sind solche Spiele kaum noch möglich. Alle Planung ist auf Transparenz geschaltet, weithin einsehbar und ohne die Möglichkeit, den Stadtraum spielerisch zu entdecken, denn nichts ist mehr versteckt. Die Leiterin des Abenteuerspielplatzes Langenfelde erzählt, dass die Jugendlichen keine »unordentlichen« Stadtlandschaften mehr lesen können. Bei Ausflügen in die »Schanze« und nach Altona sind sie durch die vielschichtige Struktur total verunsichert, verlaufen sich und definieren die Viertel mit ihren »alten Häusern« als »heruntergekommen« und »dreckig«. In ihrem »schön« begrünten Langenfelde hingegen wissen sie nicht, wohin mit ihrer Energie.
»Und diese zweckgerichtete Begrünung nimmt nun gerade der Freifläche ihre Freiheit, letzter Auslauf zu sein, insbesondere für jene Altersstufe, die ohnehin mit dem Stigma des Undisziplinierten behaftet ist, für die Halbwüchsigen.« [13] Landschaftsgestaltung gegen tägliche Ängstlichkeiten vor dem unbekannten Mitbürger? Ein schlechter Handel! »Schlimm ist bei dieser Entwicklung (...) die mit der Begärtnerung verbundene Zerstörung der Information der Landschaft. Kinder nämlich (...) verstehen die Sprache der natürlichen Vegetation. Sie erkennen an Wegerich und Mäusegerste, an Zichorie und Brennessel, ob sie hier ungestört spielen, den Zaun übersteigen, ein Feuer machen dürfen, oder ob dann ein ärgerlicher Besitzer sogleich das Gelände für sich reklamiert. Vegetation ist Information; Gärtnerei, also die Ordnung dieser Vegetation, ist infolgedessen die Zerstörung der Information, die Herstellung von Unerkennbarkeit der Zuständigkeit.« [14] Und mehr noch: Die magisch-animistischen Irritationen, wenn Wurzelstöcke zu Kobolden werden oder Windbewegungen Ungeheuer aus den Hecken springen lassen gehen verloren. Kurzum, die Schulung, den eigenen Augen nicht unbedingt zu trauen, Erfahrung in Selbsttäuschung zu sammeln und damit auch Sicherheit vor derselben sich anzueignen, ist auf nackten Freiflächen fast ausgeschlossen. Da gehen im Namen der Sicherheit nicht nur Märchen, sondern auch alte Initiationsspiele in das Verhältnis Mensch / Natur verloren. Heute ist das Abenteuer auf engstem Raum arrangiert.
Erfahrungsarrangement Abenteuerspielplatz Langenfelde, Fotos: um
Ordnen
Anke Finger: »Wir haben überhaupt viel mit Bepflanzung gemacht. Für unsere Blumenkübel im Ladenviertel haben wir an die Gewerbetreibenden mal Patenschaften verteilt, zur regelmäßgen Pflege, das klappte aber nicht immer. Und wenn die Kinder auf dem Platz spielen, dann findet man da auch schon mal ausgerupfte Pflanzen ...«
Katarzyna Nowak: »Wir haben viele kleinen Pflanzeinheiten an den Häusern, die von den Bewohnern mit viel Liebe selbst angelegt wurden.«
Immer wieder wird die Dachbegrünung zur Vermittlung zwischen Mensch und Natur eingesetzt, kleine Oasen der Spontanvegetation. Doch das Begehen der Dächer ist streng untersagt – »wilde« Natur fürs Auge, aber leider gesperrt. Verbote verlocken und entsprechend findet man unter »Hochhaus« bei YouTube Todesakrobatik der besonderen Art. Fehlt das Flächenangebot in der Breite, so suchen die Experimentierfreudigen einen Ausweg nach oben.
Gebotsbegrünung scheint Konsens bei den »gesetzteren« Altersgruppen zu sein: Wieder so ein Generationenkonflikt? Wo die Jugendlichen das »Wilde« lieben, hätte es der ältere Mitbürger gerne »schön« und »ordentlich«, will wohl heißen: wiedererkennbar und kontrolliert. Auch Ordnung ist ein Rückzugs- und Freiraum!
Blumenkästen & Vordachbegrünung Langenfelde, Fotos: um
Wie müßte die direkte Umgebung zur Wohnung strukturiert sein, um »versteckte« Erfahrungen zu ermöglichen und dennoch die Gefahrenherde für Leib und Leben zu begrenzen? Diese Frage bezieht sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche! Auch den Erwachsenen fehlt es an Entdeckungsräumen, in denen man »Mut« lernen kann für das Fremde, was die bezeugten steigenden Ängstlichkeiten in den Quartieren ja nahelegen. Wie der Politikwissenschaftler Robert Putnam in einer Studie zu seinem eigenen Entsetzen feststellt, trauen wir angesichts menschlicher Unterschiedlichkeiten in gemischten, multikulturellen Gemeinschaften bald auch denjenigen nicht mehr über den Weg, die uns »ähnlich« scheinen. [15] Das »Fremde« muß (be)greifbar sein, soll es nicht als feindlich empfunden werden. Um eine »politisch korrekte« Ausdrucksweise für die gefühlte Bedrohung zu benutzen, weichen Befragte Bürger/innen gerne in die Ortsbeschreibung der »unangenehmen Begegnungen« aus und versehen sie mit dem Attribut »unordentlich«. Erst in einer Ordnung scheint eine fremde Natur (in doppeltem Sinne auch die fremder Menschen) ohne Rest angeeignet. Um diese Ordnungen wird oftmals bissig gestritten.
Thomas Sies: »Über Kunst kann man ja gut streiten. Und die Leute kommen immer in Kontakt miteinander, wenn sie sich über etwas ärgern. Sie fangen an, miteinander zu reden. Durch Streit entsteht Gespräch, da ist Kunst ein Stück, das das befördern kann. Wenn dann die Luft wieder raus ist, haben sich die Anwohner besser kennengelernt.«
»Kunst im öffentlichen Raum« leistet bisweilen Argumentationshilfe, das »Andere« nicht zu vergessen. »Sie streiten, also sind sie gesund« lautet ein Sprichwort. Die Aufgabe heißt demnach »Kommunikationsorte gegen die Angst«? Die können aber nicht einfach verordnet werden ...
Die individualistisch geprägten, disparaten Anforderungen an den öffentlichen Raum verlangen ein neues Planungsbewußtsein bei allen Beteiligten. Gerade, wenn einmal wieder ein »Problemviertel« zum Sanierungsgebiet erklärt wurde (oder umgekehrt), wühlt die Taskforce sowohl von städtischer als auch genossenschaftlicher Seite beim Einrichten »neuer« Raumangebote gerne in alte Konzepten. Vielleicht klappt es ja nach der Renovierung ...
Der Kultstreifen »Koyaanisquatsi« zeigt die Sprengung abgewirtschafteter Schlafstädte in den USA im Jahr der Erbauung von Hamburg-Steilshoop. Anfang der 1990er betreibt das Quartiersmanagement in Steilshoop einen seltsamen Kultivierungsversuch. Die kaum genutzen Gemeinschaftsräume, die die Dächer der Hochhäuser zieren, sollen an Künstler/innen vermietet werden – mit der Auflage, keine Nägel in die Wände zu treiben und den Fußboden nicht einzusauen. Ohne Erfolg, wie sich denken läßt. Ach ja: Wer sagt eigentlich, dass Freiräume immer ausgelastet sein müssen? Da wären sie ja wohl nicht mehr »frei«.
Joachim Thorns: »Unsere Gemeinschaftsräume wurden ja vor Jahren von den heute Alten initiiert, als sie noch 'konnten'. Heute findet nur noch vier fünf mal im Jahr eine Feier statt: Goldene Hochzeiten usw. Die jüngeren Mitglieder haben daran offensichtlich kein Interesse. In den (...) Häusern werden die Gemeinschaftsräume kaum noch genutzt.
Da fällt mir ein: Die allgemeinen Waschküchen: Da könnte man was machen. Dort treffen sich viele Mitglieder regelmäßig und besonders attraktiv gestaltet sind sie auch nicht ... aber es sind neben den Treppenhäusern noch 'die' Begegnungsstätten.«
1998 veranstaltete die Kunstkommission »Kunst im öffentlichen Raum« des Landes Schleswig-Holstein »Verbotene Städte«, um einerseits die bisher als gering eingeschätzte Beschäftigung mit dem Thema anzukurbeln, als auch andererseits den Öffentlichkeitsbegriff zu untersuchen. Realisiert wurde eine Ausstellung und ein Katalog mit 250 eingereichten künstlerischen Konzepten, zu deren Realisation alle Gemeinden im Lande eingeladen sind. Zum Erstaunen der Veranstalter bezog sich ein Großteil der eingegangenen Vorschläge nicht auf einen speziellen Ort (»site specifity«), sondern allgemein auf die indirekten Kommunikations-»Verbote«, die den Stadtraum belegen. [16]
Für eine verstärkt kommunikative Nutzung des öffentlichen Stadtraums müssen zukünftig die unterschiedlichsten Verhaltenspräferenzen aller Bevölkerungsgruppen verschiedenen Alters und verschiedener Ethnien als Gleichzeitigkeiten und weniger in hypothetisch gegliederten Funktionsräumen (Diskriminierungsräumen?) berücksichtigt werden. Darauf ist später noch einzugehen, wenn wir uns in »Organisationsfeldern« umsehen.
Zwischenzeitlich liegt es am Spaziergänger selbst, sich mit eigenen Methoden (Stadt)Landschaft als Entdeckungsraum zu erschließen. Grade in der Freizeitgesellschaft hat man's schwer, freie und räumlich nicht vorstrukturierte Zeit um die Ecke sich zu verschaffen:
Eine historische Fußnote: Die Situationistische Internationale (S.I.) [17] hat im Rahmen einer radikalen Gesellschaftskritik bereits in den 1960er Jahren Konzepte zum absichtlichen Verirren an den Rändern der Erschließung, zur Not unter Zurhilfenahme falscher Stadtpläne, vorgeschlagen. So z.B. eine Wanderung durch den Harz anhand eines Plans von London. Ob der Ausflug auch stattfand, ist allerdings nicht belegt. Das »Umherschweifen« (dérive), später zur Psychogeografie [18] entwickelt, ist Mittel zur theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen, in denen das Leben selbst zum Kunstwerk wird. So stellt eine Arbeit von Guy Debord [19] Paris dar, psychogeographisch erlebt. Die Stadtteile sind zerschnitten und Teile fehlen, entsprechend vielleicht den Fahrten in der Metro, bei denen man irgendwo einsteigt und irgendwo anders aussteigt, und nicht sieht, wohin man fährt, das Wandern in einem durch Schnellstrassen zerschnittenen städtischen Raum aufzeichnend. Ein Bild von Ralph Rumney [20] zeigt einen Pariser Stadtplan, auf dem alle Wege eingezeichnet sind, die eine Studentin in einem Jahr zurücklegte - es ergibt sich ein hundertfach wiederholtes Dreieck zwischen Wohnung, Universität und Konservatorium, ergänzt durch einige weitere Linien. Die Karte machte grafisch die Einsamkeit eines vorhersehbaren, vereinzelten Lebens sichtbar. Heute werden diese Strategien in (künstlerischen) Kartierungsprojekten [21] vielfach wieder aufgegriffen.
Verstecken
»Offizielle« Zeichen eines Geocache
Nachdem am 1. Mai 2000 der US-amerikanische Präsident Bill Clinton die als »Selektive Verfügbarkeit« (Selective Availability) bezeichnete Verschlüsselung des GPS (Global Positioning System, entwickelt vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium) aufhob, schlug zwei Tage später Dave Ulmer einen Weg vor, das Ableben der »Selektiven Verfügbarkeit« zu feiern. Er versteckte einen Pott mit Krimskram in den Wäldern bei Portland / Oregon und veröffentlichte die Position des Verstecks in einem Posting in der Newsgroup sci.geo.satellite-nav. »Make your own stash in a unique location, put in some stuff and a logbook. Post the location on the Internet. Soon we will have thousands of stashes all over the world to go searching for. Have fun!« [22] Eine aktivistische Besitzstandserklärung zum öffentlichen Raum. Inzwischen ist Geocaching zu einer weltweiten Bewegung geworden. In der modernen Schnitzeljagd werden beständig neue Formen des Versteckens (caching) entwickelt. [23] Die passionierten »Entdecker/innen« passen sich der Zergliederungspolitik in Sehenswürdigkeiten an und installieren eigene Aussichtspunkte. 2005 initiiert der Dramaturg, Dozent und Künstler Horst Konietzny in München einen »artcache«, um »Orte neu erlebbar zu machen«:
»Jeder Ort ist überlagert von zahlreichen Informationsschichten. Sie sind historisch bedingt oder resultieren aus den Erfahrungen der Menschen mit den Orten. Artcaching erlaubt fremde Sichtweisen zu erleben und eigene Haltungen dazu zu erfinden. Orte haben eine Wirkung auf die Menschen, die diese Orte besuchen.
Die Wirkung verändert sich je genauer man den Ort wahrnimmt oder je mehr man über den Ort weiss oder erfährt.
Jeder Ort an dem sich ein ARTCACHE befindet wird deshalb von jemandem bestimmt, der etwas besonderes über diesen Ort mitzuteilen hat.«
»Menschen des öffentlichen Lebens in München« geben ihre Geschichte zu einem bestimmten Ort in einem bisher unveröffentlichten Text preis. Das Publikum macht sich mittels GPS-Empfänger (die man auch ausleihen kann) auf die Suche nach den versteckten Texten. Die Koordinaten stehen im Netz. Allerdings üben eingefleischte Geocacher/innen des geoclubs fachkundige Kritik an der Machart. Richtlinien haben sich entwickelt, und wie in der Kunst nicht alles »Kunst« ist, was durch Menschenhand geformt wurde, gilt nicht jedes im öffentlichen Raum platzierte Objekt gleich als »Cache«.
Um den spezifischen Fundus lokaler (Kunst)Raumerfahrungen zu ergänzen, hat sich der Autor entschlossen, sechs »Artcaches« unter dem Namen »Eckstein« zu platzieren. Vom Einsatz von GPS-Empfängern wird vorerst abgesehen: Die Orte erschließen sich aus diesem Text, beachten Sie das Geocaching-Logo. Die Spielregeln sind einfach: Cache suchen, finden, seinen Namen im Logbuch eintragen, einen kurzen Kommentar verfassen und den Cache wieder an derselben Stelle verstecken, ohne dass ein »Muggle« (ein Außenstehender) das sieht oder den Cache leicht finden kann ... Weitere Kommentare zum vorgefundenen Ort sind auf dieser Internetseite willkommen ...
Eine Orientierung
Brachen sind bei Politikern und Künstlern gleichermaßen als Gestaltungsraum beliebt, denn sie stehen zur Disposition: »Konversionsflächen« werden sie dann genannt und bieten Anlaß für Grundsatzdiskussionen. Doch vorab eine Sammlung zu der Frage: »Was ist das, eine Brache?«
Historisch existiert ein analoger Begriff schon im alten Testament. Das Sabbathjahr gebietet das Aussetzen der Bewirtschaftung in jedem Siebenten [24]. Die Landwirtschaft kennt eine Vielzahl von Spezifizierungen zur Erhaltung der Bodenqualität und aktuell kassiert der europäische Landwirt Zuschüsse für unbewirtschaftetes Ackerland, sofern er dieses durch regelmäßiges Mulchen (Mähen gegen allzu unkontrollierten Wildwuchs) pflegt. Die landwirtschaftliche Brache ist Spekulationsobjekt im Kontext der Überproduktion geworden – und sie ist, wie heute alle Natur, pflegebedürftig. Zudem hat der Blick des ausflügelnden Städters der landwirtschaftlichen Brache neue Qualitäten beigewertet, die veränderte Produktionsziele ermöglichen: Vom Trimm-Dich-Pfad über Sonnenblumen- und Maislabyrinthe, Blumenfelder für Selbstpflücker bis hin zum Biotop.
Die Politik nun entwickelt wachstumsgläubig allerorten und gegen alle demografischen Vorhersagen neue Bebauungspläne, erschließt in den Speckgürteln der Metropolen Industrie- und Wohngebiete – und scheitert oft mangels Investoren an den eigenen hochtrabenden Hoffnungen. Es bleiben vielfach Flächenangebote, Blankoland, das niemand nutzt. Erschlossen und vergessen?
Lucius Burckhardt begreift Fehlplanung als unfreiwilliges Naturschutzprogramm. »Fehlplanung und Bauspekulation sind also große Naturschützer, sie garantieren die für die Erhaltung der Unkrautvegetation notwendige Dysfunktionalität« [25], die die einheimische Spontanvegetation erhalten hilft. Und mehr noch: Eine Brache, das »Niemandsland, das ist das Land, wo der Schorsch seine selbstgebastelte Rakete zündete und wo Anne ihren ersten Kuß bekam«. [26] Spontanes Wachstum ist also nicht nur eine Sache der Botanik, so läßt sich hier rumalbern. Aus solchen Erfahrungen hat sich das Bewußtsein für eine ungewollte Landschaftsqualität entwickelt, die viele Zeitgenossen im Zuge der allgemeinen »Ver- und Gebotsbegrünung«, die ihnen smart ein Rollenverhalten aufzwingt, zu vermissen beginnen. Entsteht da (ungewollt) ein neues Landschaftsverständnis, eine neue Kategorie der Nutzung abseits des Spekulationskreislaufs? Was in dem bundesweiten Projekt »Lebensraum Brache« für Rehe, Feldhasen, Rebhühner und Co. initiiert wird, Rückzugsräume für ein streßfreies Tierleben zu schaffen, sollte doch auch für Menschen Geltung haben können. »Artgerechte Haltung«, diesen Begriff sollten wir für unser eigenes Leben überdenken. In der vielbeschworenen, darwinistisch orientierten Analogie einer Selbstregulierung menschlichen Miteinanders durch den Markt stecken zu bleiben, bringt uns nicht weiter. Wunsch- und Möglichkeitsräume lassen sich keinesfalls mit statistisch generierten Verhaltensmodellen erschließen. Ausgeblendete Erfahrung läßt sich schlecht erfragen, sie will (wieder)entdeckt und frei erprobt werden.
Brachen haben längst keinen aus sich heraus erkennbaren Kontext mehr. Ihre ursprüngliche Lage am Rand der Erschließungen, als der wilden Natur (dem »germanischen Urwald« [Lucius Burckhardt]) abgerungenes Land zur Versorgung der Bevölkerung mit ausreichend Nahrung, gilt nur noch in unseren artifiziellen Vorstellungen. Der Begriff hat heute eine indifferente Bedeutung angenommen. Er findet nicht mehr nur in der landwirtschaftlichen Bodenregeneration Anwendung, sondern bezeichnet metaphorisch viele Arten ausgemachter räumlicher Monotonie oder Funktionslosigkeit, je nach Standpunkt. So können auch die grünen Abstandsflächen zwischen großen Wohneinheiten als Brachen bezeichnet werden, denn niemand nutzt sie. Brache kann überall sein: Leerstellen.
Eine besondere Leerstelle findet sich im Botanischen Garten in Klein-Flottbek. Nachdem das Pflanzensystem des armenischen Systematikers Armen Takhtajan aus dem Jahre 1959 überholt ist, wurde auch die darauf bezogene Pflanzenanlage brachgelegt. Der unbedarfte Besucher rätselt um die verbliebenen Beetränder herum – und entwickelt eigene Spielfantasien. Doch eine Konzeption, die nun freien Flächen temporär mit Vorträgen zur Landschaftsmalerei zu bespielen, wurde von der Gesellschaft der Freunde des Botanischen Gartens Hamburg e.V. mit der Begründung abgelehnt, es würde zu wenig auf einzelne Pflanzen eingegangen.
Brachgelegtes Pflanzensystem im Botanischen Garten Klein-Flottbek (2005), Fotos: um
Wenn von Brachen die Rede ist, werden schnell Bilder moderner Ruinen assoziiert: Der Bunkerwald bei Hamburg-Bergedorf, das Gleisdreieck in Altona. Industriebrachen sind – wenn sie nicht ohnehin in einem Spekulationsgebiet liegen – zu jung oder zu schadstoffbelastet, um Ruinen bleiben zu dürfen. Ruine im volkstümlichen Verständnis, das ist hierzulande malerisches Mittelalter, der »liebliche Ort«. Die Sicherung einer aus dem Wirtschaftskreislaufs gefallenen Immobilie »nur« als Ruine, soweit sind wir noch nicht, zumindest solange kein »Mahnmalverdacht« gegeben ist oder Denkmalschutz droht. Die Ausnahmen bilden Truppenübungsplätze wie beispielsweise der Höltigbaum in Hamburg-Rahlstedt, der zum Naturschutz- und Naherholungsgebiet umgewandelt wurde, wenn auch das Verlassen der Wege nicht ungefährlich ist.
Kleine Industriebrache in Bahrenfeld, Warnhinweis im Höltigbaum, Fotos: um
So bleibt es Hobbyhistorikern wie der »Interessengemeinschaft für historische Militär-, Industrie- und Verkehrsbauten« überlassen, zu sammeln und zu recherchieren. Doch die öffentlich aufgearbeitete Geschichte von Militärbauten findet erfahrungsgemäß nicht immer die erwünschte Rezeption und die Betreiber von »lostplaces.de« sehen sich auf ihrer Homepage vorauseilend zu einer Klarstellung gezwungen. »Was wir nicht sind und nicht wollen«: Militariafanatismus, Schatzsucherei, NS-Gesinnungsgeklüngel oder die Aufforderung zur Abenteurer-Party sollen keinesfalls befördert werden.
Die Landschaft als Modell
»Aus der Unordnung unserer Stadt/ländlichen Umwelt entsteht die Geschwätzigkeit der Postmoderne.« Lucius Burckhardt nennt dies »hypertypische Landschaften« und macht drei Formen aus: den Supermarkt, den Themenpark und die Denkmalpflege, für die eine »scharfe Trennung in Veranstalter und Konsument« typisch ist. [27]
Der Bedarf an Landschaft im Bilde scheint groß, das zeigt schon die steigende Quote bei den Reise- und Expeditionsberichten im Fernsehen. Zur Gemütsregulierung hyperaktiver Kinder bringen Landschaftsposter beste Ergebnisse. Die Ausstellung »Caspar David Friedrich« im Herbst / Winter 2006 / 2007 in der Hamburger Kunsthalle hingegen entschädigt das Publikum kaum für die vermeintlich verloren gegangene Qualität des Sonntagspaziergangs um die Ecke. Aus internen Kreisen der hier Beschäftigten ist zu hören, daß viele Museumsbesucher sichtlich entnervt reagieren, schon wegen der Auflage, aufgrund der durch Transpirations- und mitgebrachte Regenfeuchte gefährdeten Bilder Mäntel und Jacken abzugeben: Vor einer Landschaft im Hemd? Zu dieser Jahreszeit? Zeitweise muß die museale Landschaft gar wegen Überfüllung geschlossen werden. Schlange stehen. Wenn man vor lauter Spaziergängern den Wald nicht sieht. Das schiere Gegenteil des »Rezipienten-Entwurfs« der Romantik. Ich beobachte viele Besucher mit Kopfhörern, sechs Führungen gleichzeitig. Doch erstaunlich, nicht wenige stehen auf den Fluren und lauschen offensichtlich einer Bildbesprechung, die im Raum nebenan stattfindet. Sie haben sich aus dem überfüllten Bilde ganz in die Stimme der Beschreibung zurückgezogen. Andere »Verstöpselte« wandern mit gesenktem Blick umher, nur auf die Suche nach begehbaren Gassen konzentriert, Beerenpflückern zwischen Heidelbeersträuchern gleich. Jene, die auf eigene Faust kundenschaften, suchen mit hochgezogenen Brauen, Augen die verzweifelt an mir vorbeizusuchen bemüht sind (wie ich an ihnen), um hier und da sich einer Schraffur zu nähern, die sie dann doch nicht recht zu überzeugen scheint. Um die Entgegenkommenden zu Grüßen, wie es bei der Begegnung sich fremder Wanderer in freier Landschaft als Reflex erhalten geblieben ist, bleibt mir hier keine Zeit, ich käme sonst ins Stolpern. Zu vorherrschend ist mein Interesse, niemandem auf die Füße zu treten. Und an den Wänden und in den Vitrinen: Lucius Burckhardt hätte seine helle Freude gehabt an dieser geballten, feinsäuberlich nach Motiv und Form des Bildaufbaus gegliederten "Anleitung zur Selektion" in dieser Museumslandschaft. "»Und am Ende haben viele Menschen in der Ausstellung etwas erlebt, was sie nie wieder vergessen werden. (...) einmal dem Mann über dem Nebelmeer über die Schulter geblickt zu haben.« Die vorab so vertonte DVD zur Friedrichschen Malpraxis tut ihr übriges, erläutert mit Verehrung die Versatzstücke, aus denen der Meister Bilder vom Land schafft, die kollektive Sehnsucht geworden sind. Man könnte im Zuge der Kommerzialisierung der Kunst eine Verbindung sehen zu den »hypertypischen Landschaften« – Denkmalspflege in unseren Gefühlswelten eben. Verläßt man die Räume der Sonderausstellung in Richtung »ständige Sammlng« kehrt schlagartig Ruhe ein und ein Gefühl der Weite und (wer dafür empfänglich ist) der Melancholie macht sich breit: Endlich allein! Richtig romantisch hier ... Taucht wider Erwarten ein anderer »verirrter« Besucher auf, erwacht wieder der Grußreflex, zumindest einen Blick zu verschenken, dekoriert mit einem freundlichen Lächeln.
Attraktoren QM2/3643 und QM2/4038 von Helene von Oldenburg,
Fotos: Helene von Oldenburg
Ein Pendant zur »hohen Kunst«: Das Miniaturwunderland in Hamburgs Speicherstadt. Hier kann man jetzt am Landschaftsbild mitbauen, für einen guten Zweck, in der »Schweiz«. Ein Unternehmer, der mit Leuchtdioden seine Brötchen verdient, ersteigert ein Grundstück von knapp 40 Quadratzentimetern für über 5.800,- €. Die erste Besichtigung mit Familie findet vor laufenden TV-Kameras statt. Und dort im Modell läßt sich weit werbewirksamer als in jedem Stadtraum eine kleine Filiale errichten, fern aller psychogeografischen Fragestellungen, denn das Modell lebt vom Witz der Unvereinbarkeiten, ja, wird dadurch erst komisch schön. Eine vorbereitende Rechtfertigung im kollektiv Privaten für neue Bausünden, die sich alsbald ganz selbstverständlich in der »echten« Welt einfordern lassen, womöglich als »ironisches Zitat« (Charles Jencks)? Seit wir mit geringen Mitteln die entlegensten Gegenden des Erdballs erreichen, beruht unser Bild vom Verhältnis Mensch / Natur nicht mehr allein auf den westlich geprägten Parametern des Klostergärtleins, der französischen Barockanlage oder des englischen Gartens, vielfach aber immer noch auf dem »interesselosen Wohlgefallen« des an der Bewirtschaftung Unbeteiligten. Im Einzelfall kann das durchaus fruchtbare Folgen zeitigen, wenn zum Beispiel der träumende Städter in einem leerstehenden Gehöft eine Käseproduktion einrichtet. Doch dann ist das Wohlgefallen schon nicht mehr interesselos. Der Schauspieler und TV-Moderator Dieter Moor berichtet: »In der Schweiz ist ja alles schon vollbracht. Jeder Winkel ist durchgestaltet. Also sind wir ins Brandenburgische gezogen, wo man noch etwas tun kann.« Der Normalfall indes: Beim Blättern in Reiseprospekten bilden wir uns unser persönliches Landschaftsideal und belichten unsere »private Erzählung« in beliebige Orte hinein, um diese anschließend als mehr oder weniger »echt« oder »typisch« zu klassifizieren. Das Bild von der konkreten Landschaftserfahrung findet für den Ausflügler heute vornehmlich im privaten Fotoalbum statt. Das hat auch die Kommunikationsindustrie erkannt und die kunsthandwerklich orientierten Fotowettbewerbe im Internet reproduzieren in der fotografischen Tradition der ersten Stunde die Landschaftsmalerei der vorvergangenen Jahrhunderte.
Nicolas Poussin, Der Sommer, Foto: public domain
Privatfotos zur Inszenierung im öffentlichen Raum, um
Folgt man Burckhardts These, dass Landschaft immer pflegebedürftig ist, so kommt man auch um seine Erkenntnis kaum herum, daß Landschaft heute zu einer Darstellung ihrer selbst im Maßstab 1:1 geworden ist, »denn das Wort Landschaft ist recht trickreich, ist ja schon eine Interpretation der Umgebung« [28] und für Goethe ist der Maler Jacob Philipp Hackert der »gröszte landschafter«. [29] Bild und Original fallen in eins. So ist es auch für die aktuelle Kunst wichtiger geworden, die (Stadt)Landschaft, diese Bilder, direkt zu bespielen. Die These vom Modellcharakter der Landschaft verdeutlicht in anderem Zusammenhang beispielhaft die Aufgabenstellung des Forschungs-Projektes »Schutzgut Landschaftsbild«, das zwischen 1995 und 1998 vom Institut für Landschaftsentwicklung in Berlin durchgeführt wurde. Ein weiteres Beispiel gefällig? Die Förderrichtlinie "ZILE" kümmert sich um das "Orts- und Landschaftbild, ländliches Erbe" und will »das typische Landschaftsbild (...) erhalten«. Nur das Bild erhalten im historischen Erfahrungskontinuum? Der Fotograf Robert Voit hat einen Ableger des Trickreichtums des schlechten Gewissens gegenüber dem Landschaftsbild dokumentiert. Schon bei der Entstehung der Großstadt Hamburg erläßt der Hamburger Rat 1699 ein Mandat zum Schutz des Waldes, um die Hamm- und Hörner Hölzung nicht ferner zu ruinieren. Die wichtigsten Gründungen zum Schutze des Landschaftsbildes sind keine Erfindung neueren Schuldbewußtseins, wie man vermuten könnte, sie fallen in die erste Dekade des 20ten Jahrhunderts. Der heutige »Bund Heimat und Umwelt in Deutschland« (BHU) wurde 1904 unter dem Namen »Deutscher Bund Heimatschutz« gegründet. »Könnte es sein, dass unsere Landschaftswahrnehmung in dem Sinne veraltet ist, dass sie mit der Veränderung der Landschaft heute nicht mitgekommen ist? (...) Sicherlich hat sich der Gegensatz von Stadt und Land wenn nicht aufgehoben, so doch mindestens verflacht. (...) Da er [der Stadt/ländliche Bewohner] einen Übergang von der städtischen in die ländliche Bebauung nicht erlebt, ist ihm schon der allererste Einstieg in das klassische Landschaftserlebnis verwehrt.« [30] Auch ist das Bewußtsein über eine Mitschuld an den Veränderungen der als typisch eingestuften Landschaften gestiegen. Landschaft betrachtet man heute nicht mehr »interesselos« – die Erhaltung zumindest des Bildes soll uns weiterhin trösten. In der aktuellen Kunst hat sich die idealisierende Darstellung allerdings längst aufgelöst, ist der individuellen Erfahrung, einer Phänomenologie der Erscheinungen oder dem kunst- und kulturhistorischen Kommentarbild gewichen. Landschaften wie Landschaftsbilder sind Menschenbilder. Abseits der Kunst empfangen wir Ansichten vom Zustand der Erdoberfläche hauptsächlich im Rahmen der Krisen- und Kriegsberichtserstattung. »War is God's way of teaching Americans geography«, lesen New Yorker bei einer Antikriegs-Demo 2003. »Landschaft«, das ist die Patina anderer Interessen, die darunter liegen.
Zurück im Quartier
Und dann gibt es natürlich noch den Spielfilm. Die Vielzahl der Defizite, die entstehen, wenn man einen Ort aus dem "modernen" Nichts kreiert, zeigt Jaques Tati in »Mon Oncle« (1959). Onkel Hulot kommt aus der gewachsenen Struktur eines zum Abriß stehenden Viertels, das die ganzen »Mißstände« zu einer Erlebniswelt vereint, die für den kleinen Gérard aus dem Neubauviertel die große Faszination gegen die geregelte Langeweile zuhause vorstellt. Ihr Vergnügungsgebiet ist die Brache dazwischen. Konsequent beschäftigt sich Tati in »Herrliche Zeiten« / »Playtime« (1967) mit den oben erwähnten »Fallschirmspringern« über dem touristischen Zentrum um dann in »Trafic"« (1971) mit der technologisch nicht einzulösenden Utopie eines autark organisierten Campingvergnügens auf der Höhe der Bequemlichkeit abzurechnen. Diese wunderbaren Streifen sind auch heute noch ein Geheimtipp. Gewöhnlich erneuern wir aber unser Landschaftsbild in Rosamunde Pilchers Idyllen, jenseits von Afrika oder auf einer Expedition zum Mars. Auf den Schirm – danke Scotty. Unvergesslich die Filmsequenz, die Besucher der Tour de France am Straßenrand um ein TV-Gerät versammelt zeigt – mit dem Rücken zum vorbeirauschenden Feld der Fahrer. Landschaftsbilder sind Menschenbilder. So viel Fernweh lenkt endgültig ab vom eigentlichen Problem: Der stadtlandschaftlichen Ratlosigkeit vor der Haustüre. Verlassen wir die medialen Pfade und kehren wir dorthin zurück!
Kleine Verlegenheitslösung in Hamburg-Langenfelde, Foto: um
Wer auch immer dieses wunderliche Beet angelegt hat, es bleibt in meiner Erinnerung. Ein brachliegender Deckel zum Kellereingang durfte nicht bleiben. Wie ein Gegenbild ist die kleine Steinlandschaft darüber gelegt, so wie man Schimmel auf der Tapete mit einem Poster zu kaschieren sucht. Dank der Verlegenheit, die dieser von der Generalbegrünung vergessene Flecken ausgelöst haben mag, ist etwas entstanden, das im Verhältnis zum Rest anders anmutet. Eine Art Aussparung, nicht aufgrund der Machart – an anderer Stelle gesetzt würde sie banal bis peinlich wirken und sicher als Mülldepot dienen – sondern wegen der »angelehnten« Lage. So etwas entsteht nicht durch Planung. Das darunterliegende »häßliche« Dach über der Kellertüre hat eine unvorhergesehene Beschäftigung mit dem Detail erzwungen. Herausgekommen ist eine Verlegenheitslösung und eben diese Verlegenheit ist mir so sympatisch. Wehe demjenigen, der es gewagt hat, diesen Herbst hier Tulpenzwiebeln einzusetzen, damit sie im Frühjahr die Köpfe rausstrecken: Ausrupfen werde ich sie ihm! Besucht hat der Autor diesen Ort zusammen mit Ralf Jurszo, Maler und passionierter Ausflügler ins Periphere. Seine Landschaften im Klein- und Mittelformat komponieren die heimischen Landschaftsideale in real erwanderte Ansichten in und um Hamburg. Der Wille zum Sonnenuntergang wird bisweilen mit Leuchtfarbe unterstrichen, man könnte meinen, der Maler lege es darauf an, in die »Galerie 1000 Töpfe« in der Ruhrstraße in Hamburg-Bahrenfeld aufgenommen zu werden. In Konsequenz besuchen wir diese wenige Tage später und sie ist wie immer besser besucht als die meisten Galerien in Hamburg.
Ralf Jurszo, »Beeren«, »Sibeliusstrasse«, »Wasserwerk Kaltehofe«
Acryl auf Leinwand, Fotos: © 2007 by Ralf Jurszo
Der Besuch eines Wohnquartiers in Hamburg-Barmbek zusammen mit einer Künstlerkollegin, schenkt mir ein zwiespältiges Vergnügen. Noch zum Jahreswechsel 2005 / 2006 war die Binnenanlage des »Gutenberghofs« ein Landschaftsgarten mit nur am Hausrand umlaufendem Weg. Völlig überrascht sehe ich nun frisch angelegte Wege aus Klinkerpflaster, Beleuchtungspoller, Papierkörbe aus Edelstahl, ein Ensemble Bänke und stramm gereihte Fahrradständer. Aufgemacht wie eine öffentliche Grünanlage. Jetzt gibts auch hier kein Verstecken mehr. Gibt es keine anderen Formen der Gärtnerei? Es sei erwähnt, daß über die Straße ein »richtiger« Park liegt. Ich rätsle. Dann kommt mir eine positive Fragestellung in den Sinn: Wird die »Wildheit« des großen Parks gegenüber nicht erst dadurch hervorgehoben, daß hier so eine außergewöhnliche Ordnung herrscht? Ab sofort hat man die Wahl: Übersichtlich oder wild, je nach Stimmung.
Gutenberghof, Hamburg-Barmbek, Adlerstrasse, Foto: um
Abmarsch zu einem anderen Ort: Auch in Hamburg-Langenfelde ist die Grünschönung auf dem Vormarsch und die Verantwortlichen machen sich sicherlich große Mühe. Doch was hilft es, wenn man sich mit dem Gartenkatalog in der einen, der Budgetvorgabe in der anderen Hand müht. Versuchen wir es einmal anders: Stellen Sie sich vor, aus einer inzwischen leerstehenden Ladenzeile wird ein Schutzgebiet! Mitten im Quartier!
Gutenberghof, Hamburg-Barmbek, Adlerstrasse, Foto: um
Nicht einmal ein Bäcker konnte sich hier halten und für Gewerbe liegt das Gelände zu abseits. Im »Nachbarschaftstreff« 700 Meter weiter habe ich bisher noch nie jemanden gesehen, wozu also noch einen weiteren Raum? Nun, vielleicht als Ruine, fürs Auge zunächst. Aber als Ruinenbesitzer muß man sich in Geduld üben, bis die ersten Käfer einziehen. Das Leben läßt sich nicht befehlen. Der Vorschlag, hier zumindest bis zum Abriß eine abschließende Fotopräsentation der Erinnerungen zu veranstalten, wurde aufgrund der Brisanz des Themas abgelehnt. Die Ladenzeile ist inzwischen verschwunden, ich sehe sie immer noch – wie die Anwohner, die hier 30 Jahre lang eingekauft haben – obgleich ich erst zweimal hier war. Ruinen sind eindrücklich. Sie lassen uns philosophieren.
Gutenberghof, Hamburg-Barmbek, Adlerstrasse, Foto: um
2005 hat der Autor mehr als 30 Hamburger Wohnungsgenossenschaften über 3 Monate hinweg beworben, an einem Projekt »Kunst im öffentlichen Raum« innerhalb ihres Wohnungsbestandes teilzunehmen. [31] Das Feedback war zunächst erschütternd gering. Nur eine Genossenschaft meldete sich aus eigenen Stücken zurück: die Wohnungsgenossenschaft Langenfelde eG. Die Anfrage bei der SAGA / GWG ergab wenigstens ein lapidares »Sie sehen ja in den Fluren, welche Häuser zu uns gehören. Melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas passendes gefunden haben.« Eine dritte, die Baugenossenschaft der Buchdrucker eG, konnte nach etlichen Telefonaten gewonnen werden und entwickelte bereits nach kurzer Zeit eine inzwischen kulthaft zu nennende Zuneigung zu unseren Projekten. Der Vorstand hat für sich zunächst beschlossen und dann an der Erkenntnis festgehalten, dass Kunst ein Mittel sein kann, den »zunehmenden Empfindlichkeiten zwischen den Mietern in den letzten 10 Jahren« [32] entgegen zu wirken. Beispielhaft stellt die Genossenschaft den Aktivitäten von KiöR e.V. ab Sommer 2007 im Braußpark, Hamburg-Hamm ein Waschhaus aus den 60ern, dessen Gerätschaften wegen zurückgehender Nutzung umgelagert werden, zur Verfügung. Haben wir doch noch eine Ruine gefunden, die wir erhalten können! Das führt uns zu einigen Objekten im öffentlichen Raum.
Das ausrangierte Waschhaus in Hamburg-Hamm, Foto: um
Objekte
Viele Künstler/innen lieben die kleinen Brachobjekte an den Bordsteinen und Wänden der Stadtlandschaft aufgrund ihrer skulpturalen Qualitäten, die wohl einerseits in der zweckbefreiten Erscheinung liegen, andererseits aber auch für eine historische Beschäftigung bis hin zu einer (bisweilen utopischen) Neubestimmung taugen. Die beiden amerikanischen Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann (beide 1957 geboren) realisierten im Herbst 1993 ihr Projekt »Die offene Bibliothek« mit rund 1000 Büchern in drei umgebauten großen Schaltkästen der Hamburger Elektrizitätswerke. Kunst im physischen öffentlichen Raum hatte in einer kurzen Phase, als das Internet hierzulande noch keinen nennenswerten Stellenwert für Kommunikation erlangt hatte, besonders in Hamburg Konjunktur. Gesellschaftlich relevante Arbeit schien künstlerisch möglich und auch den Autor hat diese Aussicht damals sehr beflügelt. Inzwischen organisiert sich in fast jedem Waschsalon der anonyme Bücher- und Zeitschriftentausch wie von Geisterhand, analoge Internetprojekte wurden geboren und florieren [33]. Den Haushalt des Autors erreichen und verlassen ebenfalls wöchentlich Päckchen mit aktuellen Filmen auf DVD. Die Entwicklung rast. Auch die »KiöR«-Szene muß sich neu konsolidieren, die Utopien vom Frühstück sind Mittags schon woanders Realität. »Mein« Waschsalon ist neuerdings sogar mit einem Konferenztisch bestückt.
Im Waschsalon, Hamburg-Bahrenfeld, Foto: um
Skulpturen im öffentlichen Raum können die Funktion von Lockvögeln übernehmen, um »Grünbrachen« von ihrem Stigma der Abstandsfläche zu befreien und wieder begehbar zu machen. Kunst, hier einmal mutwillig reduziert auf ihre umräumliche Komponente, kann Räume trennen, verdoppeln, umkehren, immer die Neugier des Publikums vorausgesetzt, sonst bleibt sie deplatziert.
Skulptur Walther Dexler am Dammtor, Foto: um
vgl. auch Dan Graham »Double Triangular Pavilion for Hamburg«, 1989
Mit Skulpturen kann man allerhand Unsinn anrichten. In dem Maße, in dem Kunst und Architektur zur bloß visuellen Attraktion werden und künstlerische Strategien nur als Mittel zum schönenden Zweck verfolgen, zerstören sie Freiräume, sind nicht mehr als Kuriositäten, die auf den «richtigen» Betrachter warten. Es liegt »natürlich« auch Potential darin, den Bock zum Gärtner zu machen: "drop sculptures" zur Projektion von »all-overness«. Die Sinnhaftigkeit zwischen Objekt und Umgebung ist – wie die Landschaft selbst – kommentarbedürftig, aber nicht jeder Kommentar bleibt überall haften. Da kommt man um den vielleicht etwas überstrapazierten Begriff der Nachhaltigkeit kaum herum. Was an einem Ort notwendig wird, stempelt einen anderen zur kulturell bestellten Nichtigkeit.
Florentine Vötig: »Ja, das ist traurig, daß sich die Gesellschaft so aus der Kunst zurückzieht ...«
Frank Seeger: »Heute gilt ja noch eher eine Ferrarri-Mütze als Kunst. Und das gekonnte im Kreis fahren ...«
Joachim Thorns: »Bestimmte Richtungen von Kunst, zum Beispiel das Abstrakte, finden unter unseren Mietern keine große Anhängerschaft.«
Skulpturen am Abenteuerspielplatz Hamburg-Langenfelde, Fotos: um
»Gerade das Wort `Landschaft´ bezeichnet ja ursprünglich selektionierte Motive in Umweltgebilden heterogener Art, die zufällige Entstehungsgeschichten haben. (...) Jenseits der postmodernen Landschaft würde ich eine solche Konfiguration als eine `potente Landschaft´ bezeichnen.« [34] Kann man so etwas planen?
Gewohnte Wege
Auch beim Betreten von Diskursen und Theorielandschaften sind wir den tradierten Pfaden erlegen. Einmal angeeignete Informationen und Argumentationsketten wollen untergebracht werden, das gehört zum Selbstverständnis der Selbstdarstellung genauso wie zu unserem Wissensbegriffs, der diffus auf geld- oder ehrenwerten »Fortschritt« ausgerichtet ist. Community-Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle.
Vielleicht ist es an dieser Stelle nützlich darauf hinzuweisen, wie aus Mißachtung ungeliebter Eingriffe Recht werden kann: Das Gewohnheitsrecht »ist ungeschriebenes Recht, das aufgrund langer tatsächlicher Übung und durch allgemeine Anerkennung seiner Verbindlichkeit im Sinne einer Überzeugung von der rechtlichen Notwendigkeit der Übung entstanden ist«. Ohne ins rechtswissenschaftliche Detail zu gehen, könnte man sagen: Es ist ein Recht auf Tradition, solange sie dem geschriebenen Recht nicht entgegensteht. Bei allen Starrheiten, die uns überkommene Gewohnheiten bescheren, hier ein kleines positives Beispiel, entdeckt während eines unserer Spaziergänge: Zwischen den Hochhäusern im Försterweg in Langenfelde finden wir durch Buschwerk eingegrenzte Wäschetrockenplätze. Eigentlich ein Anachronismus, und wir vermuten wohlwollend, daß die Hausverwaltung hier einfach der Lauschigkeit der Orte wegen Geschichte bewahrt hat. Hat sie aber nicht. Im Zuge der Neubegrünung sollten diese Orte beseitigt werden, doch die Mieter haben den Erhalt durchgesetzt. Ist es denn zu fassen! Da kommen noch Menschen aus dem 8. Stockwerk herunter, um ihre Wäsche zum Trocknen aufzuhängen und im Rahmen dieser liebgewonnenen Handlung interessiert es sie kaum, ob die Wäsche da unten »sicher« ist. Wir sind begeistert. Was früher von Mühsal begleitete Plackerei war, ist heute willkommene Abwechslung. Wird der Blick auf den Garten mit wehender Wäsche – im Familienalbum erhalten als romantisch verklärtes Accessoir – wieder Zeichen für einen intakten Bereich im halböffentlichen Raum?
Erhaltener Wäscheplatz in Langenfelde, Foto: Eva Ammermann
Vielerorts sind »Gewohnheiten« im physischen Raum aufgrund hoher Fluktuation der Anwohner längst wegrationalisiert, ohne dass dafür Raum für vielleicht neu entstehende Gewohnheiten übrig gelassen wurde. Das entspricht faktisch einer Wegnahme von Bewegungsraum und damit einer Installation von Monokultur. Demgegenüber berichten viele Wohnungsgenossenschaften über einen beklangeswerten Rückgang der Motivation zur Kommunikation.
Anke Finger: »Kommunikation zwischendurch, wie sie früher gang und gebe war, braucht heute einen Anstoß.«
Katarzyna Nowak: »Heute ziehen die Leute des öfteren in eine Wohnung ein und stellen sich nicht einmal bei den Nachbarn vor.
So saßen bei einem unserer regelmäßigen Grillfeste zwei Bewohnerinnen aus dem selben Haus beisammen und sprachen nach 10 Jahren Nachbarschaft das erste Mal richtig miteinander. Wer wohnt denn da nebenan? Ach, das sind Sie! Die beiden Damen beschlossen daraufhin, sich öfter zu treffen.«
Simone Zückler: »Eine Dame aus dem Nachbarschaftstreff hat den Vorschlag aufgegriffen, die Geschichte der Linse [Fußnote: Das Quartier zwischen Kieler Straße und Bahndamm in Hamburg-Langenfelde.] aufzuarbeiten. Sie versucht jetzt Material zusammen zu tragen. Bei der Genossenschaft wurde da historisch wenig archiviert. Die Mitglieder haben teilweise noch alte Fotos und können viel berichten. Die Frage ist aber dann, wie man diese Geschichte im Viertel auch allen Altersgruppen vermitteln kann.«
Hier stoßen wir auf eine Leerstelle in der oben erwähnten Studie von Robert Putnam. Sie berücksichtigt nicht die Angst vor dem Anderen, die dadurch entsteht, daß sich verschiedene Gruppen nicht mehr »unbeabsichtigt« über den Weg laufen und Bedürfnisse erstreiten können, weil sie aufgrund landschaftsarchitektonischer wie arbeitsteiliger Regulierungen gezwungen werden, sich »zielführend« entlang scharfer innerer und äußerer Ränder zu bewegen (siehe das Wegebild von Ralph Rumney). Ich möchte die Erfahrung nicht missen, zwischen im Freien aufgehängter, frisch gewaschener Wäsche zu spielen, von der Mutter hochgehoben zu werden, um auch Klämmerchen anzuklippen und dabei das »Original« zur Aprilfrische zu schnuppern, um im nächsten Augenblick mit Freunden genau hier verstecken zu spielen. Da begegnen sich jung und alt anders als auf einem eingezäunten Spielplatz. Wichtige Absprachen werden dabei beständig neu erstitten und damit Einsichten ins Problem (und nicht nur eine Verordnung) bewahrt: Was man warum darf und warum anderes nicht und dass auch der (halb)öffentliche Raum allen gehört! Menschen, die das spielerisch nicht gelernt haben, überschütten im späteren Erwachsenenleben ihre Nachbarn gerne mit Zivilklagen. Verordnungen sollen Probleme beseitigen und beseitigen nicht selten auch das damit einhergehende Problembewußtsein. Auch an die Generation »Geschirrspülmaschine« sei erinnert: Wenn Arbeitsabläufe des Alltäglichen wegrationalisiert werden, sterben auch Kommunikationsräume und in bestimmten Fällen, wenn zum Beispiel das Geld für einen gemeinsamen Geschirrspüler nicht reicht, entstehen später neue Konflikträume, die doch – wenn nicht aus der »Tradition« gefallen – Spaßräume hätten sein könnten.
Die Baugenossenschaft der Buchdrucker berichtet, daß die vor zwei Dekaden von Mietern eingerichteten Gemeinschaftsräume inzwischen kaum noch genutzt werden. Kunstprojekte dort hätten keine Chance. Aber, wir sollten uns doch mal die Waschküchen vornehmen, dort findet bis heute die letzte intakte Kommunikation statt. (Halb)öffentlicher Raum spendet wenig Sinn, wenn er das Private nicht aufzunehmen im Stande ist, das Private nicht hineingetragen werden kann. So könnte man den Spruch »zum Verweilen einladen«, der in fast jedem Planungsbericht strapaziert wird, auflösen. Das private Leben ist zudem mehr denn je Veränderungen unterworfen, vereinzelte Bänke auf Rasengrün sind eindeutig zu wenig als Projektionsraum für die Vielfalt individueller Bewegung. Doch selbst bei der Installation von Bänken würde das »unbeabsichtigte über den Weg laufen« schon befördert, wenn statt einer mehrere Bänke so nebeneinander aufgestellt würden, dass sich räumliche Nähe und Distanz verschiedener Personen oder Gruppen über die Aufmerksamkeit regeln lassen. Zur Zeit funktioniert die Nutzungszumutung nach dem Motto: Wenn zwei Bänke nicht ausgelastet sind, nehme ich eine weg. Die Geste der Einladung, die durch eine zweite, leere Bank entsteht, spielt keine Rolle: Der Planer als Stoffel. Unbeabsichtigtes »Belauschen« produziert – selbst wenn als Klatsch und Tratsch – Sicherheit und Verständnis: Man (er)kennt die »Geräusche« der anderen und ist daran gewöhnt. Dadurch sinkt auf Dauer auch die »gefühlte« Lärmbelästigung durch fremde Stimmen. Die »Persönlichkeitsblase«, mit der wir uns öffentlich bewegen, braucht eine Architektur der Annäherung, in der wir mit variablen Distanzen spielen können. Im familiären Privatraum geschieht es andauernd: Zusammen sein aber je verschiedenen Beschäftigungen nachgehen. Im öffentlichen Raum sind wir viel zu geschäftig unterwegs, um uns dort (gegenseitig oder jeder für sich) zu beschäftigen. Begegnungen aus dem Nichts sind selten von Erfolg gekrönt. Meist bleiben sie Rempeleien.
Rempeleien und andere Meinungen aus dem Quartier dokumentieren die Filmemacher Florian Thalhofer und Kolja Mensing in ihren filmischen Tagebüchern 13terStock und 13terShop. Nachbarschaft kann abendfüllend sein.
Es geht bei allen Verhandlungen um den Stellenwert von (halb)öffentlichem Raum auch darum, variable Nutzungsüberschneidungen zu (er)finden, die neben dem üblichen Konfliktpotential auch ein gewisses »Verschwisterungspotential« in sich bergen und das meint weit mehr, als einen gemeinsamen Parkplatz, der auch straßenfesttauglich ist. Die verschränkte Nutzung eines Raumes durch völlig unterschiedliche Gruppierungen ist (entgegen dem rationalisierten Empfinden) ein »Sicherheitsfaktor«: Wo viele Menschen sich ortsverbunden bewegen entsteht Vertrauen, mit anderen Worten: eine »potente Landschaft«. Was die Langenfelder Jugendlichen in einer Stadtlandschaft wie Altona irritiert (siehe oben), wird von neu zugewanderten Student/innen einer ansäßigen Fachhochschule geschätzt: »Hier trinken Saccotypen und ausgefranste Panks ganz selbstverständlich nebeneinander ihren Kaffee.« Nicht umsonst suchen sich junge Werbe- und Marketingfirmen Stadtteile als Standort aus, die keine Gentrifizierung »von oben« erfahren haben: Hier läßt sich ganz nebenbei das unersetzliche Trendfeeling entwickeln. In wie weit hier neue »Probleme« der Verdrängung auf die Alteingesessenen zukommen, läßt sich noch nicht genau sagen. [35] Eines aber ist sicher: Es läßt sich ihnen »begegnen«.
Park Fiction vom Buttclub aus gesehen, Foto: um
Praktische Bewußtseinsarbeit zur Ortsverbundenheit und Etablierung neuer Gewohnheiten betreiben Projekte wie Park Fiction. In langwierigen Entscheidungsprozessen der Anwohner bilden sich Gruppen, die in erlerntem gegenseitigem Respekt auf einem Areal verschiedene (disparate) Landschaften zulassen. Natürlich hat man es in einem traditionell nachbarschaftsfreundlichen Stadtteil wie St. Pauli leichter, solche Arbeit anzugehen. Allerdings arbeitet auch Park Fiction seit der Präsentation des Projektes auf der Dokumenta 11 (ungewollt oder nutzenkalkuliert) mit dem Leuchtturmeffekt, wie seine Indienstnahme durch die Hamburger Kulturbehörde zeigt. Auch die Kritik hat bisweilen ihre Probleme mit der Überschneidung von Kultur(t)räumen, man ist an Vereinnahmung gewohnt und wehrt sich mit der verbalen Einrichtung scharfer Ränder. [36] Die Hamburger Hafensafari hat inzwischen Tradition. Aufgrund von Erfahrungen mit Hafenerweiterung, »Sprung über die Elbe« und »HafenCity« versammelt das Projekt seit 2003 Künstler/innen zur Bespielung von Brachflächen, um »Orte im Umbruch vorzustellen, die die meisten Hamburger allenfalls aus der Distanz kennen. Ihre Besonderheiten und Potenziale für die Zukunft sollen aufgezeigt werden – und ebenso die Visionen, die sich mit ihnen verbinden.« [37] »Dass wir Menschen vor Ort bringen, ihnen eine Möglichkeit geben, sich mit diesem Ort auseinanderzusetzen, ihn zu verstehen, um eben hinterher dann eine politische Überzeugung auch tatsächlich formulieren zu können, die eben nicht einfach darauf fußt, dass man irgendwelche abstrakten Wachstumszahlen daherdekliniert, dass man sich mit irgendwelchen Bildern beschäftigt, die ein Architekt gemalt hat (...) sondern dass man sehr viel stärker aus der Geschichte heraus und was eine Planung hier diesbezüglich bewirken könnte argumentiert. (...) Das schlimmste, was passieren kann ist, dass Entscheidungen gefallen sind, bevor sich irgend jemand damit beschäftigt hat.« [38] Die Grenze zur Komplizenschaft des Projekts mit den hochtrabenden Plänen der Stadt ist fließend, wie die neuerliche Angliederung an die städtische (und umstrittene) Jurierungspraxis des Kunstprojekts Hafensafari zeigt und sollte intensiver diskutiert werden. Natürlich soll hier nicht vergessen werden, die über die Landes- und Bundesgrenzen hinaus bekannten Anwohnerinitiativen zur erfolgreichen Verhinderung der Gentrifizierung des Hamburger Schanzenviertels »von oben« im Zusammenhang mit der »Flora« [39], die Hamburger Hafenstraße und aktuell die immer noch schwelende (oder zumindest repräsentativ glimmende) Auseinandersetzung um die Nutzung des Schanzenparks zu erwähnen und Leser/innen, die nicht ganz so »hamburgfirm« sind, ins Gepäck zu schreiben. Was bei Park Fiction unter Federführung einiger Künstler/innen weit gediehen ist, bleibt im Schanzenpark in Protestaktionen stecken – vielleicht (noch) eine Nummer zu groß für selbstorganisiertes Handeln.
Zuletzt: Die »wachsende Stadt« Hamburg setzt nun auch zum großen Biß in den Volkspark Altona an: Freizeitsport gegen Eintritt? Erst, wenn Zugang zum öffentlichen Raum was kostet, wird er attraktiv? Oder einfach nur quantifizierbar für einen Wirtschaftsbericht? Politik in den Ketten des Zählbaren. Ob die »Sportwiese« weiterhin sommerlicher Picknickplatz für vornehmlich ausländische Familien bleiben wird, ist fraglich. Noch ist sie Zuflucht aus den picknickfeindlichen Grünflächen der Wohnbezirke. Letzte Meldung: Der Umzug des Tennisstadions vom Rothenbaum in den Volkspark wird durch das zuständige Ortsamt als nicht wirtschaftlich gestrichen. Danke für die Einsicht.
Organisations-Felder
Unsere Entscheidungsreflexe beruhen regelmäßig auf dem »Minimalkonsens«. So etwas wie einen »Maximalkonsens« als Gegensatz gibt es eigentlich gar nicht. Beide Begriffe meinen irgendwie das Gleiche: Alle an der Artikulation eines Problems Beteiligten sind ungefähr zufriedengestellt oder ruhiggestellt: »Minimaldissenz«? Es gibt letzlich nur Konsens oder Dissenz. Gegenüber dem Kompromiß und der Verlierer-Gewinner-Lösung hat sich der Begriff »win-win« etabliert. Bei vielen hat der ein anrüchiges Image, weil er vermeintlich aus der Wirtschaft kommt. Vielleicht eignet er sich aber – im Zusammenhang mit dem Begriff "Teilöffentlichkeit" – um eine angestrebte »Teilzufriedenheit« zu beschreiben, die ohne unnütze Reglementierung (Benachteiligung) einer Gruppierung gegenüber einer anderen auskommt, weil subjektiv empfundene »Mißstände« als Gewinn für andere von allen Parteien bewußt akzeptiert werden. Und da wären wir wieder bei der Faszination für die »Brache«. Tatsächlich sind freie, unkontrollierte Erfahrungen besonders im Rahmen von kalkulierten Mißständen zu gewinnen. Dort gibt es vieles zu entdecken und zu tun, solange sich dieses Tun nicht auf die Beseitigung eines aus seinem Zusammenhang gerissenen und als Mißstand klassifizierten Freiraums bezieht. Des einen Mißstand ist eben des anderen Freiheit und Lebensgrundlage, und die gilt es genauso zu schützen wie die eigene! »Bei Seehunden oder Walen wärt ihr längst auf den Barrikaden. Aber die hier sind keine Seehunde, sondern einfache, anständige Leute«, gibt Danny, der Dirigent des Grubenorchesters aus Grimley am Ende des Films »Brassed off« dem Publikum in der Royal Albert Hall mit auf den Weg. Das allumfassende Profitparadigma, das dieser Film schildert, ist auch im Kleinsten schon verankert. »Ich gebe doch meine Ideen nicht gratis weiter!« argumentiert ein Teilnehmer, als im Rahmen eines Kunst-Projektes für eine gemeinsame Fotowand im Innenhof des Gutenberghofs (Hamburg-Barmbek) Ansichten zu Hamburger Orten gesucht wurden, die für die Anwohner Bedeutung haben.
Nachdem sich Zielgruppen nicht mehr eindeutig politisch, ökonomisch oder sozial zuordnen lassen, weil jede/r gezwungen ist, sich ihr/sein eigenes Patchwork als Referenzsystem zusammenzustellen, sind alle Bereiche unserer Wahrnehmung disparat und damit vermittlungsbedürftig geworden. Eindeutige »Soziotope« lösen sich auf. Aufgrund der unterschiedlichen Erzählweisen entsteht eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten, die sich auch quer durch historisch gewachsene (konsensfähige) Gesellschaftsgruppen ziehen und dort für viel Streit um neue demokratische Strukturen führen.
»Wie kann Spannung und Aufmerksamkeit in disparaten Erzählumgebungen erzeugt werden? Der hoffnungsvollen Verzweiflung des Autors, der als disparat empfundenen Wirklichkeit gerecht zu werden, steht die verzweifelte Hoffnung des Rezipienten gegenüber, dennoch einen Faden aufzunehmen.
Nicht zuletzt geht es um Erfahrungen und Theorien, die zum Verständnis von disparaten Erzählmustern beitragen können und um die Frage nach den ästhetischen und politischen Konsequenzen.« [40]
»Wir alle kennen die grünen Rasenflächen, wie sie sich zwischen den Mietshäusern hinziehen. Sie werden vom Hausmeister gemäht, das Betreten ist zwar nicht verboten, aber niemand, zumindest keine erwachsene Person, betritt den Rasen freiwillig. Die auf dem Plan so grosszügig bemessenen und bei der Schlüsselübergabe so hochgelobten Spiel- und Liegewiesen bleiben Abstandsflächen. Es gäbe ein Mittel, diese Abstandsflächen kostenlos nutzbar zu machen: die Privatisierung unter den Mietern. Dieses aber würde wohl Ungleichheiten schaffen. Die partizipatorische Pflege der Abstandsflächen durch die Mieter bedürfte einer gemeinschaftlichen Organisation. – Wer aber will sich damit beschäftigen? Sicher können das nicht die Gärtner, sicher wollen das nicht die Vermieter. Sicher können es nicht die Mieter allein. Hier öffnet sich eine freilandpflegerische Aufgabe neuer Art.« [41]
Das klingt nach einem Appell, die unterschiedlichsten Interessen zu versammeln und eine angemessene Formulierung zu organisieren – mehr als das übliche "was Du nicht willst dass man Dir tut, das füge auch keinem anderen zu". Ein Beispiel gefällig? Die von der Wohnungsgenossenschaft Langenfelde organisierten Grillfeste basieren auf (Schweins)Bratwurst und Bier, so wird uns beim Besuch des Abenteuerspielplatzes berichtet. Dieser Umstand wie auch die »Buden«-Struktur schließen ganze Kulturkreise von Anwohner/innen aus, die dann auch nicht erscheinen. Der Kritik ließen einige Macher/innen das Experiment folgen: Bei einem Fest mit einer von den ansäßigen Migrant/innen erstellten Speisekarte, die die Vielfalt der Kulturen repräsentierte, sahen sich die deutschstämmigen Besucher/innen urplötzlich in die Position einer Randmehrheit gedrängt und nur wenige fanden den Mut, von den schmackhaften aber unbekannten Speisen zu probieren. Die bisher Ausgeschlossenen 30% dagegen entwickelten ein neues Gemeinschaftsgefühl. Geht doch!
Interesseloses Wohlgefallen, das kennt der Städter, wenn er aufs Land fährt und vielleicht auch der Ländler, wenn er am Wochenende in die Innenstadt kommt. Aber vor der eigenen Haustüre? Nun, die offenen Grünflächen zwischen den Bebauungen könnte man auch als gebaute »Tafelbilder« interpretieren. Ruhepole für das Auge, das grüne Wohlgefallen: »Teppich-Rasen, der alle Teppich-Putz-Gelüste voll befriedigt (...) Garten als Wohnzimmer«. [42]
Grün als »Tafelbild«, Foto: um
In der Folge von Immanuel Kant könnte für eine »potente« (Stadt)Landschaft gelten: Pflege, ohne die Absicht, übergeordneten politischen Profit daraus zu schlagen. Doch es gibt keine »offizielle« Kultur der in diesem Sinne »zweckbefreiten« Nutzung von (Stadt)Landschaft, auf die kollektiv zurückgegriffen werden kann, dies wäre wohl ohnehin ein Widerspruch in sich. Fragen wir trotzdem: Welchen Voraussetzungen müßte eine »zweckfreie Gärtnerei« genügen, wenn Sie den Widerspruch zwischen Ordnungswillen und einem der Zufälligkeit geöffnetem Raum einigermaßen befriedigend beackern will? Zunächst müßte sie sich um den Begriff der Interessenderegulierung kümmern, so etwas wie eine Kultur »unspezifischen Werkelns« entwickeln, und sie müßte auf Endlösungen verzichten, die dann durch einen institutionalisierten Verwaltungsapparat im einmal beschlossenen Zustand erhalten werden. Die derzeitige Politik, den öffentlichen Raum (im Einklang mit der mehrheitsfähigen Bratwurstkultur) als »Event«-Plattform zu begreifen – das aktuell akzeptanzsicherste Minimal–Konsens-Nutzungs-Konzept – hat damit nichts im Sinn ... solange stellen wir einen Blumentopf auf.
Die Offroad-Straße
Wer die Eventisierung der Kunst als Blasphemie betrachtet, schaut sich in der »Off«-Kultur um: bei den vor der Allgemeinheit meist gut versteckten Adressen, die sich, einmal erobert, gegen eine fremdbestimmte Neuerschließung (als Ergebnis jahrzehntelanger Ausgrenzung?) fast bissig abgrenzen – und dafür staatliche Subventionen fordern wie der europäische Landwirt für eine Brachlegung aufgrund der Überproduktion. Auch in der Kunst gibt es eine Überproduktion, die der Markt nicht akzeptiert. Vielleicht liegt hierin das wohlgehütete Geheimnis dieser heterogen bestückten und wage gewordenen Geisteshaltung »Off«, die versucht ohne Teilnahme am pekuniären Wachstumsdogma zu wachsen: Versuche, Brachwirtschaft zu betreiben und die Kunst dort anzusiedeln, wo sie sich den merkantilen Rollenverständnissen (immer wieder) entziehen kann – gleichfalls ein Rollenverständnis, zwangsläufig, selbst immer im Umbruch, weil an den Strategien der »Gegner« orientiert. Dort, wo das Dazugehören zur Farce wird, weil es nicht einlösbare Marktkompatibilität meint, arbeiten die Einzelkämpfer und bilden sich kleine Schwärme, die ihre Erfahrungen schützen, eben bestenfalls als Geheimtipp sich zu erkennen geben. »Artcaching« wäre auch hier ein adäquater Ausdruck, »Community-Bildung« ein anderer, den Finger in die Wunde legt man mit »die Familie« [43], womit die Bandbreite angerissen ist.Ist dies der aktuelle Gegenentwurf zum mainstream der politischen Deregulierung von Kultur: Die konsequent getopte Privatisierung der Kunsterfahrung auf der Basis von künstlerisch-rituellen Anwesenheits-Strategien in »Szenen«, [44] wie sie u.a. von vielen Performern immer wieder vertreten wurde und wird? Weg von den (bisweilen fiktiv anmutenden) Repräsentationen im großen Kunst- und Kulturzusammenhang oder im Kulturwirtschaftsbericht, [45] hin zu einer unmittelbaren Präsentation? Nur die ursprüngliche Erfahrung des »Originals« und seiner Protagonist/innen soll zählen und bis zu einem gewissen Grad vor Inbesitznahme und Vermarktung durch Dritte schützen. Eine »konsumbezogene Dienstleistung«, »durch das uno-actu-Merkmal gekennzeichnet, d.h. Produktion und Verbrauch finden bei Dienstleistungen orts- und zeitgleich in derselben Handlung statt«. Deshalb müssen beide Seiten, Dienstleister und Konsument, persönlich zur selben Zeit an einem Ort sein. [46] Solche Kunsterfahrung gibt sich nicht in generalisierte Repräsentationen übersetzbar, entgegen der immer noch verbreiteten Annahme, Ästhetik (die Wissenschaft von den Bewegungen der Sinne – die schönste Definition, die ich bisher fand) erlaube die interkulturelle Vermittlung von Gestimmtheiten und »Urbildern«, und hat damit auf anderen Ebenen wieder ein Vermittlungsproblem, insbesondere bei der Finanzierung. Im internen Diskurs der Aktiven vermischen sich künstlerische Haltung und taktische Strategien des fundraising unvermittelt zu vermeintlichen Gegensätzen, die doch nur die gemeinsame Arbeit am Disparaten meinen. Konkurrenz beginnt mit einem spezifischen Interesse, die Türen zum Wirtschaftskreislauf sich offen zu halten. Das ist das Wesen der Brache, beständig gefährdetes Spekulationsobjekt zu sein. Und hier spekulieren die »geschützten Arten« sogar selbst mit ... Leichter hatten und haben es da die Bewohner der Hamburger »Bambule« und anderer Bauwagenplätze. Hier gibt es kaum Streitigkeiten über »Off – On – Off«. [47] Eine Analogie zum Begriff »Brache« macht hier weniger Kopfzerbrechen, denn es geht nicht um Zuschüsse für kulturelle Werte, die von der Stadt zu vereinnahmen wären [48], sondern um das nackte Bleiberecht des Anderen. Und es geht um die vielbeschworene Toleranz der hanseatischen Seele, auch wenn es dieser schwer fällt, die Verweigerung eines konsumorientierten Bequemlichkeitswachstums nicht als Tagediebstahl zu diskreditieren.
Miniaturwunderland, »Radio Eriwan«, www.miniatur-wunderland.de
Wie bestimmt man seine direkte Umgebung mit, ohne einem Nachbarn, der Hausverwaltung oder anderen »Hoheitsrechtlern« auf die Füße zu treten? Am effektivsten funktionieren immer noch Vereinigungen von Gewerbetreibenden, denn hier herrscht zumindest Konsens darüber, daß es um den höchstmöglichen Profit für alle geht und den gönnt man sich gegenseitig auch von Herzen (nicht nur taktisch verbal). Zwar treffen sich auch die profitorientierten Anrainer meist erst in Krisensituationen, aber dann haben sie das schlagkräftige Argument der Standortsicherung auf ihrer Seite und damit die Lokalpolitik.
Der organisierte »Off-Raum« – endlich eine Bleibe?
Kunst-Projekte, die die Mitbestimmung in den Vordergrund stellen, haben es nicht leicht. Partisanen, Nostalgiker, Ironiker, Missionare, Apokalyptiker und Pragmatiker versammeln sich. Allzu oft erschöpft sich das Ergebnis in einer Dokumentation der disparaten Meinungen, ohne in einen Prozeß der Entscheidungsfindung zu münden. Auch das »Off« ist dank der prekären Überlebensanforderungen – aber auch in seiner Kritik – stark auf das Prinzip Angebot und Nachfrage fixiert (oder davon infiltriert). Die meisten subpolitischen Kunstöffentlichkeiten, die sich an einem runden Tisch treffen, vereint ein politisch anstehendes Disaster bezüglich ihrer Finanzierungsquellen, meint Fördertöpfe aller Art. Naturgemäß setzt sich so eine Gruppe aus kommunikativ weniger und mehr geschulten Personen zusammen. Beim ersten brainstorming für mögliche Maßnahmen (den Angeboten) stehen die verschiedenen Meinungen aufgrund des unterschiedlichen Sprachgebrauchs und theoretischen Hintergrunds regelmäßig vermeintlich unvereinbar nebeneinander. Es gibt – so könnte man interpretieren – eine Auseinandersetzung um die Nachfrage und welche Formen der Nachfrageproduktion Gruppenzugehörigkeit beanspruchen »dürfen«. Schleppende Sitzungen, bei denen es nicht selten vorkommt, dass das Protokoll der vorangegangenen als Bericht der aktuellen Sitzung wiederverwendet werden kann, erschöpfen sich in politischen Spekulationen und verschenken viel Potential ihres schöpferischen Ungehorsams. Neue Erfahrungen aufgrund kollektiver Setzungen werden gescheut, solange der prekäre Ist-Zustand (oder Leidensdruck?) noch ein Überleben erlaubt. Fallen dennoch Entscheidungen, so ist garaniert, dass mindestens eine Fraktion das Projekt verlässt (und es dann in anderen Öffentlichkeiten tatkräftig hintergräbt). Berichte über diesen Mechanismus sind keineswegs nur aus Hamburg zu bekommen! Geht es dabei um die Sehnsucht nach finalen Lösungen (endlich mal durchatmen) oder wären nur einfache Antworten gefragt, die das Experimentieren in den Vordergrund stellen? Temporäres Agieren, statt finales Reagieren?
Auch auf einen Mediator kann man sich selten einigen. Dass, was gestern noch falsch erschien in einem sich verändernden Umfeld heute plötzlich richtig sein kann (und erst morgen vielleicht wieder falsch) wird wenig besprochen, es wird auf die doch bekannten Diskurse verwiesen, diese wollen erst noch einmal gemeinsam durchgespielt werden. Die Garantie für ein mittelfristiges »On« im »Off« bieten sie alle nicht. [49]
Ein weiteres Mißverständis entsteht, wenn viele »Entscheider« die Nachfrage allein auf sich als Konsumenten der eigenen Aktivitäten beziehen und ihr »außerkünstlerisches« Umfeld vernachlässigen. Nur so ist zu erklären, dass in Hamburg viele "Off"-Räume noch 2006 öffentlich bekennen, dass sie doch lieber unter sich bleiben wollen – mit öffentlichen Mitteln gefördert. Hier steht wieder die (verständliche) Angst vor Vereinnahmung im Vordergrund. Auf die Idee, jenseits von Vereinnahmung zu agieren, um das städtische Leben zu bereichern, kann man sich nur schrittweise einigen. Der Knoten am Streitwagen des Gordios hält – noch. Die Angst vor dem Anderen wird hier besonders fantasie- und facettenreich gepflegt: Mit dem Gesichtsausdruck der political correctness tappt man in die Fallen der Selbstreferenzialität, die man doch bezüglich des herrschenden Profitabilitäsdogmas kritisiert. Der politisch begrenzte Förderetat der Fachbehörden besorgt dann regelmäßig das »Mulchen«. [50]
Um vom politisch organisierten »Mulchen« sich zu befreien, liegt die engagierte Mithilfe bei der progressiven Deregulierung staatskultureller Aufgaben an, so eine These. Was kommt, kommt ohnehin. Machen wir, dass es so kommt, wie wir es wollen! Vielleicht gelingt damit der Versuch, aus der Abhängigkeit einer auf dem Gießkannenprinzip (zu dem man aufgrund der Jurierungskritik gerne zurückkommt) basierenden, selbstreferentiellen Förderpolitik zu entkommen und endlich auf Investorensuche zu gehen. Unerwarteter Weise könnte Handlungsfähigkeit dann entstehen, nicht wenn alles »Off« mainstream wird (wie beständig befürchtet) sondern die Erkenntnis sich breit macht, dass mainstream zukünftig im »Off« eines Handlungsraums erst glaubwürdig in Produktion und Rezeption Authentizität (und damit Wirkung über die üblichen Kreise hinaus) gewinnen kann. Eine Überlegung ist das allemal wert: »think local, act global«?
Ansonsten ergibt sich für Anwohnerprojekte eine geringfügige »Garantie« auf Gehör hauptsächlich dann, wenn es um Fragen der »Sicherheit« geht. Doch dieser konsensfähige Begriff verengt die Möglichkeiten freien Handelns nur noch mehr: »Die allmähliche, scheibchenweise Wegnahme einerseits, das glückhafte Versprechen von Sicherheit andererseits läßt das Erlebnis der Verschlechterung [des Stadtraumes] verschwimmen. An einer Stelle, an welcher man sich schon lange unsicher fühlte, wenn man die Straße überqueren wollte, erscheint plötzlich ein Zebrastreifen. (...) Auf einer Länge von 60 Metern darf ich nun die Straße nicht mehr frei überqueren – das ist die Wegnahme. Schließlich wird auch der Zebrastreifen nicht mehr als sicher empfunden, ein Rechtsabbieger überfuhr einen Fußgänger (...) und die Stadtverwaltung beglückt mich mit einer Ampelanlage (...), daß ich nun bis zu drei Minuten warten muss, um die Straße zu überqueren.« [51] Wir erinnern uns an Ulrich Wickerts Überquerung des Place de la Concorde. Analoges wäre zum Thema Stadtbeleuchtung zu vermerken.
Um eine für alle Anrainergruppen angemessene Umgebung zu initiieren, Entwürfe anzustreben, die über vordergründige Funktionalitäten im beschriebenen Sinne hinausgehen, muß man sich bereits bei der Formulierung der verschiedenen Interessen mit konsensfähigen Formen der Deregulierung dieser Interessen auf unterster Ebene befassen, um interne Augenhöhe zu erreichen. Eines scheint für jede Planung klar: Scharfe Ränder setzen der freien Erfahrung Grenzen. »Mißstände haben unscharfe Ränder. Und der Designprozeß macht dann scharfe Ränder.« [52] Bei solchen Eingriffen wird dann weniger der Übelstand beseitigt, »sondern sie verteilen Nutzen und Schaden anders«. [53] Wie entwirft man verträglichere, oder besser "lebenspendende Mißstände"? Man weicht Randbedingungen auf. Dafür braucht es ein Bewußtsein und das kommt erst so richtig in Gang, wenn die zuvor eingerichteten scharfen Ränder an die Grenze des subjektiv Erträglichen einer Interessenpartei gehen. »Ich glaube es ist ein wichtiger Prozeß: dass wir wissen, dass sogenannte Randbedingungen genauso Design-Variablen sind. Etwas schwerer verrückbare Design-Variablen. Aber sie müssen auch Design-Variablen sein.« [54]
Brache oder Landschaft?
Brachen werden »eingerichtet«, entweder als bewußte Brachlegung oder als Folge der Effekte gesellschaftlicher Veränderungen, die auch die Raumnutzung beeinflussen. Wie bisher angeklungen ist, entwickelt der Begriff »Brache« inzwischen Landschaftsqualitäten. Dennoch soll hier eine Unterscheidung versucht werden, die (immer noch) typisch ist:
Brachen sind von außen (weg)geschlossene Bereiche, die nicht mehr (der letzte macht das Licht aus) oder noch nicht (warten auf den Investor) genutzt werden. Dadurch werden sie natürlich nicht zu leerem Raum. Es entwickeln sich über die unkontrollierten Zugriffe von außen (vom Samenflug bis zum »Geheimspielplatz«) kleine Welten, die wir dann später mit Verwunderung betrachten. Faktisch entsteht diese »Welt« durch Effekte und Konzepte der Ausgrenzung. »Dort liegt eine Brache«. Und, so paradox es klingt, werden durch die Ausgrenzung Freiräume geschaffen – eben für das (an anderer Stelle) Ausgegrenzte. Besiedeln Menschen eine solche Brache selbstorganisiert und aus eigenen Stücken, entstehen nicht selten Gegenräume (»counter-space« [Henri Lefèbvre]). Dann aber können sich diese Gegenräume meist nur halten, wenn sie mittels einer geeigneten Geschäftsform in Reservate umgewandelt werden.
Landschaften hingegen werden unter gesetzten Prämissen angelegt und als Funktionsräume nach außen hin abgegrenzt (für eine wie auch immer definierte Elite). »Hier ist die Landschaft zu Ende«. Der Innenraum ist durch die gesetzten Interessen kontrolliert, mit bestimmten Inhalten belegt und um die Parzellierung so einer »neuen« Landschaft in weitere subfunktionale Bereiche wird dann regelmäßig gestritten.
Was geschieht nun, wenn eine Brache in eine Landschaft umgewandelt wird, sei es durch eine veränderte Auffassung über ihre Qualitäten, die sich durchsetzt (Beispiel Biotop) oder durch Rückführung in den Wirtschaftskreislauf (Beispiel Konversionsfläche). Beim Biotop wird eine kontrollierte Zugänglichkeit über ein Wegesystem installiert, das Innere der ehemaligen Brache / des Biotops aber bleibt weitgehend unangetastet oder wird aufwändig im »ursprünglichen« Brachzustand erhalten. Es besteht weiterhin eine (künstliche) Abgrenzung von außen. Anders bei der Rückführung einer Brache in den Wirtschaftskreislauf. Emotionen entzünden sich, denn faktisch geht es nun darum, durch das Implementieren von wie auch immer ermittelten rentablen Funktionalitäten einen Raum für bestimmte Gruppen zu besetzen und nach außen abzugrenzen. Gentrifizierung bedeutet im Groben nichts anderes.
Es läßt sich nun munter spekulieren: Biotop / Reservat stellen Versuche dar, gesellschaftliche Prozesse als Orte einzufrieren. »Hypertypische Landschaften« (Supermarkt, Themenpark, Denkmalspflege) konstruieren sich aber ebenso, nur dass ein anderes Ausschlußverfahren angewandt wird. In beiden Fällen werden gesellschaftlich mehrheitsfähige Prämissen / Paradigmen (zwischen Wirtschaftswachstum, Fetischismus und Romantik) gegenüber anderen Prozessen isoliert, inszeniert und dann vor weiteren Entwicklungen in (halb)öffentliche Schutzhaft genommen. Wie extrem solche Verfahren in einer Gesellschaft verankert sein können, zeigt der Bericht über den öffentlichen Raum in Japan. [55] Hierzulande entsteht mir der Eindruck, dass sich das inzwischen etablierte »unfreiwillige Naturschutzprogramm« der landwirtschaftlichen Brache wie eine Rückversicherung gegenüber einer »ursprünglichen« und »wilden Natur« lesen läßt: Ist doch alles intakt! Dabei beginnt diese Leseart auf andere Raumkonstellationen (und Naturvorstellungen) überzugreifen, für die sich der Begriff »Brache« zu etablieren beginnt.
Reservat oder Sozietät
Bei allen Versuchen, Brachen anders »fruchtbar« zu machen als in einer (kapitalistischen) Refunktionalisierung versus Reservat, stellt sich also die Frage nach der – nicht nur das Physische betreffenden – Grenzziehung oder Randgestaltung. Reservate haben klare Grenzen, die einen Raum von außen her eingrenzen, um ihm dann gezielte Förderung zukommen lassen und das Eindringen dritter Interessen zu verhindern. Bezogen auf den Begriffsraum »Off«-Kultur als freie Brachnutzung können daraus munter Analogien gebildet werden, wie derzeit und hierzulande das Problemfeld Förderpolitik (und die Einforderung von Förderung) bestellt wird.
Freie Soziotope – heute sagt man häufig »Community« dazu, angesiedelt jenseits von »Familie« (die bisweilen auch als Soziotop bezeichnet wird, obgleich der Begriff Reservat sicher angemessener wäre) – hingegen bilden sich aus einer als gemeinsam angenommenen Interessenlage. Der Begriff »freie Sozietät« wäre vielleicht angemessener. Viele »Off«-Räume in Hamburg (zum Beispiel SKAM e.V., hinterconti, KiöR e.V. und andere) verzichten bewußt auf institutionelle Förderung. Sicherlich tun sie dies auch, um nicht einer damit verbundenen, von außen gesetzten Grenzziehung anheim zu fallen. Sobald ein »Off«-Raum als Reservat eingegrenzt wird (oder sich selbst eingrenzt), beginnt die Sozialpolemik, die Ausgrenzung durch die »Professionellen«. Ein fließender Übergang in andere gesellschaftliche Handlungsräume ist dann erschwert, gegen Vorurteile muß angegangen werden und nicht selten macht dies dann die Hauptarbeit der Aktiven aus. »Off«-Sozietäten, die aus dieser Erfahrung heraus eine öffentliche institutionelle Förderung ablehnen und sich anderweitig mit finanziellen Mitteln versorgen, sehen sich dagegen nicht selten mit dem Vorwurf aus den »Reservaten« konfrontiert, »Verräter« zu sein. Ihre Flexibilität wird zum Rechtfertigungsmerkmal für ihre Ausgrenzung aus der Walhalla der »Non-Profit«-Heraldik. Durch die zurückgefahrenen öffentlichen Mittel für die Künstlerförderung in Hamburg wird derzeit eben diese Diskussion (wenn auch versteckt) geführt: Reservat oder Sozietät?
Ist für das Problemfeld »Ausgrenzung« die begriffliche Unterscheidung zwischen »Grenze« und »Rand« noch nicht genau ausgemacht? Einen Rand kann ich überspringen, kann meine Rollen spielerisch wechseln. Sobald ich eine Grenze (einen Zaun, eine Mauer, eine Beschilderung, eine Betonierung, eine Schnellstraße, einen Wach- und Schließdienst) vor mir habe, drohen Repressionen. Es gibt bei Übertritten keine Ausrede mehr, ich verliere das Gesicht. Schon sprachlich läßt sich am Wort »Veränderung« mit einer kleinen Buchstabendopplung eine »Ver-Ränderung« bauen: Auflösen der Schärfe, die den Rand zur Grenze macht. Auch steht im Rahmen der »postmodernen Geschwätzigkeit« die Überlegung im Raum, den Begriff der »Landschaft« als Arbeitsbegriff zwischendurch aufzugeben und besser mit »Gelände« oder »Gegend« [56] zu argumentieren. So kann man unbefangener fragen, was den einzelnen Nutzungsentwürfen denn da entgegenstehen soll. Für ein »neues« (Landschafts)Bild muss eine leere Leinwand nicht schaden ... Aber: Pinsel und Farbe an alle verteilen!
Das »Off« in den Zentren der Peripherie
Viele Quartierszentren verbrachen inzwischen. Leerstand steht dann »offiziell« für den Anfang vom Ende. Leerstand frustriert nicht nur die Eigentümer und kleinen Gewerbetreibenden. Welche Qualität entwickeln wir künftig in den Quartieren, wenn weite Bereiche als Versorgungszonen für den täglichen Bedarf hinfällig geworden sind, weil wieder ein Einkaufszentrum auf einer »Konversionsfläche« am Quartiersrand entstanden ist? Der erste Ruf ergeht regelmäßig an die Kulturschaffenden vor Ort, sind sie doch bekannt für ihre (brotlose) Bereitwilligkeit. Krisenmanagement beginnt nicht selten mit der Inszenierung einer Krise im Streit um öffentliche Mittel. »Think global, act local«: Die Inhalte für den Standortfaktor sollen von außerhalb kommen. Das Fremde zu Rate zu ziehen ist durchaus nicht die schlechteste aller Strategien, solange lokal »stabile« Bedürfnisse weiterentwickelt werden: »Think local, act global«!
Als 1995 das zehnjährige Jubiläum der Passage »Alte Post« in der Hamburger Innenstadt anstand, wollte die Betreibergemeinschaft – das Gespenst der Suburbanisierung vor Augen – eine unvermietete Verkaufsfläche nicht herzeigen und hat sich um die Bestückung mit Kunst gekümmert. Der Autor hat daraufhin das Konzept »Ein weiteres Glas Milch bitte ...« realisiert. 200 qm Raum, in der Mitte eine »Eiserne Kuh« die gratis Milch spendete und drei Diakaruselle, deren Bilder von Passanten und Details aus der direkten Umgebung mit Bildfängern im Schärfepunkt einzufangen waren, sollten sie nicht bloße Lichtstimmung bleiben. Täglich zwischen 11 und 14 Uhr wurde daraus eine kleine Erholungsstätte von der visuellen Überflutung, die zunehmend auch von »Personen ohne Kaufkraft« frequentiert wurde. Für die umliegenden Gewerbetreibenden hingegen war es ein Affront, einen fast leeren Freiraum vor Augen zu haben: Sie hatten sich eine fette Bilder- und Skulpturenausstellung gewünscht – und dann auch noch Bettler anziehen! An irgendwelchen Kosten für eine aufwändige »Ausstellung« sich zu beteiligen kam ihnen aber grundsätzlich nicht in den Sinn.
Sind aus der Zwischennutzung »ruinierter« Utopien wie der Einkaufsmeile in der Hamburger City Nord und aktuell der (Neuen) Großen Bergstraße in Altona neue stabile Dauernutzungen zu gewinnen, die mit dem Vorhandenen arbeiten? Wo steht in Hamburg die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen Politik, öffentlichem Raum und Kunst (der auch die Internet-Plattform THE THING Hamburg ihre Existenz verdankt)?
Das Kunstzentrum »ebene +14« (KX, Kunstraum, vorOrt) – initiiert im Mai 2003 vom neuen Eigentümer Greve zusammen mit der Galerie art agents – hängt erst mal am Tropf der Stadt (Kulturbehörde und Bezirksamt) und der extra eingerichteten Kulturstiftung City Nord. Nicht zuletzt aufgrund von Differenzen zwischen den Grundeigentümern wird über mutwillig vernichtete Flyerstapel in den umliegenden Firmenfoyers getuschelt. Ein neuer Investor 2007 läßt die ebene+14 erst einmal »unangetastet«, soll heißen, es werden weiterhin nur Nebenkosten für die Nutzung der Räumlichkeiten im Rahmen der übernommenen Verträge abgerechnet (KX, vorOrt) und die »Duldungen« weitergeführt (Kunstraum). Eine Planungssicherheit für engagiertes Arbeiten im Viertel gibt es daher nicht. Die Förderung der Kulturbehörde zur Aufrechterhaltung des Programms fließt (wie so oft) als indirekte Wirtschaftsförderung in die Kasse des Eigentümers, die Künstler/innen arbeiten weiterhin für lau. Ein monatlich vierstelligen Sümmchen im unteren Bereich an das Projekt ebene+14 von Seiten der Grundeigentümer-Interessengemeinschaft City Nord GmbH (GIG) wäre für die beteiligten Konzerne sicherlich kaum der Rede wert und könnte viele Streitigkeiten, die sich um den kleinlichen Förderetat der Stadt drehen, schlagartig beenden. Günstiger als aufwändige Imagekampagnen mit zweifelhaftem Inhalt von der Stange wäre diese Investition allemal.
Mit dem Blick auf pressewirksame »Strahlkraft« inszeniert die GIG zusammen mit der Galerie Borchert die »sculpture@citynord«, kuratiert von Rik Reinking – und kassiert prompt den honigsüßen Ritterschlag: »Frau Mittelberg, neue Referentin für Kunst im öffentlichen Raum der Hamburger Kulturbehörde, nutzt die Gelegenheit, das Engagement der Protagonisten zu würdigen. Sie betrachtet sculpture@CityNord als das wichtigste Projekt für Kunst im öffentlichen Raum im folgenden Jahr [2006] in Hamburg«. [57] Ist die ganze Aktion als verstecktes Dankeschön an die Stadt zu werten, dass der Denkmalschutz vom Ensemble City Nord »abgewehrt« werden konnte, [58] oder nur eine PR-Maßnahme in Folge der städtischen Aufforderung, geflossene Fördergelder zur kulturellen Aufwertung des Quartiers auch im beantragten Sinne zu verwenden? Wenn es um Geld geht, wird prophylaktisch geklagt aber selten offengelegt. Ja, wo laufen sie denn jetzt? Auf dem ersten »Skulpturenlauf« in der City Nord! Kultur und Sport, der bewährte völkische Eintopf. Nicht dass »sculpture@citynord« eine durchweg verdammenswerte Veranstaltung wäre. Die Grünbrache City Nord ist ein ideales Gelände für solche Veranstaltungen und es müßte mehr davon geben. Die Art und Weise der Setzung zieht die Kritik auf sich. Hören wir sonst von Investorenseite nicht immer das Hohe Lied der Synergien?
Sobald Zwischennutzung die Rückführung einer Immobilie in die kapitalistische Ökonomie zu befördern verspricht, ist großes Tamtam garantiert. Die (Neue) Große Bergstraße [59] steckt mitten im Prozeß. »Naturgemäß« wurden nach der Beseitigung der alten (maroden?) Infrastruktur [60] aus Pavillions mit 99-Cent-Läden, einem Antiquariat, Zeitschriften- und Blumenshops uvm. die »Creative Producers« auf den Plan gerufen, um das Image für zukünftige Investoren aufzupolieren. Neben Hamburger Kunst- und Kulturinitiativen wie Blinzelbar, Hafenklang und »Stile der Stadt« hat sich 2006 auch ein findiger Sponsor mit der Inszenierung eines Art-Festivals ins Gespräch gebracht. Die Nutzungsdiskussion um das »ruinierte« Forum und Frappant-Gebäude mündete bereits 2003 in der »Große Bergstraße Initiative« (GroBI) und 2005 im Verein »Lebendiges Altona e.V.«, der inzwischen die Gründung einer Genossenschaft verfolgt, [61] um das Gelände aus dem Quartier heraus zu bewirtschaften. Die Stadt wird aufgefordert von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen und anschließend das Gelände der Genossenschaft zu übereignen. Doch dieser Vorschlag wurde (vorerst) abgelehnt. Dennoch soll die Genossenschaft gegründet werden. Die eigens initiierte »Ideenwerkstatt« stellt drei Grundmodelle zur Diskussion: Recycling, Abriß und Neubau, Grünfläche. [62] Die Stadt sucht weiterhin nach dem Investor mit der großen Geste. Die K-Werkstatt aus der Schweiz zeigt auf ihrer Internetseite bereits die ersten Vorschläge für eine Umnutzung und auch die Hamburger Architekten und Stadtplaner Meier Fleckenstein sind in diesem Sinne dran. Konzepte für eine kleinteiligere Parzellierung, die den gewachsenen Bedürfnissen der Anwohner/innen entgegenkommt, stehen für die Stadt erst mal nicht zur Debatte. Es wäre auch eine Ausschreibung für kleine Eigentümergemeinschaften denkbar, ein Wettbewerb der experimentellen (Wieder)Aneignung. Orte der demokratischen »Basisübung« für neue Selbstverständlichkeiten könnten so entstehen. Von einer ausschließlich kapitalorientierten Aneignung und Vernutzung abgekoppelte Ideen wie »Unsere lebendigste Stadtbrache« werden indes noch auf sich warten lassen, denn nur in wenigen Vierteln lassen sich die Anwohner selbst in die politische (und emotionale) Pflicht nehmen. Der Verein »Lebendiges Altona e.V.« verzeichnet bislang nur 15 Mitglieder, berichtet Vorstand Erich Fülling. »Wir wollen alle Kräfte einbinden, die an der Verwirklichung eines anwohnerfreundlichen Altona interessiert sind.« »Es ist sehr viel unkomplizierter geworden, seit die ganzen Künstler hier sind«, sagt ein Passant im Tarnanzug in die Kamera des Hamburg Journals.
Kunst + Öffentlichkeit
Bei der Vermarktung der großen Brache Hamburger HafenCity ist bekanntlich verführerisch viel Kapital im Spiel. Die mehrheitlich prekäre Lage der Künstlerschaft trägt nicht immer zu einer ausgewogenen Diskussion bei. So versammeln sich unter Federführung der Stadt Hamburg die unterschiedlichsten (Kunst)Mentalitäten und politischen Haltungen als »cretive producers«. Von »Baltic Raw Tower« bis »Kunst-Imbiss«, werden die Betrachtercharaktere mit wahlweise fröhlichen Wissenschaften oder konsumentenfreundlicher Bratwurstreferenz abgeholt. »10° Kunst – Wege in die HafenCity« [63] setzte den vorläufigen Schlußpunkt der zentrumsorientiert profilierten »Marke Hamburg«. Die nordelbischen Quartiere der Stadt aber bleiben von Kunst und Kultur weitgehend unbehelligt – selbst die BILD findet das nicht in Ordnung. »Egal, wo er wohnt, baut sich jeder sein Zentrum und betrachtet sein Umfeld als Peripherie« zitiert der taz-Redakteur Uwe Rada in einem Artikel zum Thema Satellitenstädte. Die Aneignung des eigenen Umfelds ist immer schon Praxis. Wie sie stattfindet – mittels »Vandalismus« oder in projektionsfreundlicher, variabler (Stadt)Raumgestaltung – steht den Planer/innen zur Wahl, auch bei einer Neuerschließung.
Dass selbstverwaltete Nutzungskonzepte für »ausrangierte« Standorte das Gefühl der Teilhabe an Gesellschaft auch jenseits des Kapitals stärken können und damit einen unverzichtbaren politischen Stabilisator abseits merkantiler »Sachzwänge« vorstellen, müßte angesichts der Unruhen in Frankreich 2005 einsichtig geworden sein – aber wir sind ja hier in Deutschland. Würden Politik und Wirtschaft in solchen Fällen Abstand von der traditionellen Stadtlandschaftsplanungsfotografie nehmen und bürgernahe Nutzungsangebote mit mehr Feingefühl initiieren, um die gewachsene Struktur eines Quartiers aufzuarbeiten, könnte sich aus dem Problemkreis »Zwischennutzung« so etwas wie ein Bewußtsein für eine gewachsene »Abschlußnutzung nach der Rentabilitätszeit« entwickeln, die Beispiele setzt.
Die Gleichsetzung von (Stadt)Landschaft und Öffentlichkeit kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Bei der Privatisierung des öffentlichen Raums kommen aber nicht nur die politisch gewünschten Großinvestoren zum Zuge. Es gründen sich immer mehr Eigentümer-Initiativen und kleine Genossenschaften. [64] Spricht man über Kunst im öffentlichen Raum, so wird zukünftig das Augenmerk der Kunstgemeinde auf einem Dialog mit diesen Gruppen liegen müssen. Eine fast historisch zu nennende Chance tut sich auf, denn viele Eigentümer-Genossenschaften haben einen den freien Kunstinitiativen verwandten Hintergrund der Selbstorganisation, der einer Behörde und Großinvestoren fehlt.
Vielleicht besteht seitens der Planer und der Politik die größte Aufgabe kommender Dekaden im Erlernen einer besonderen Kunst: der Kunst der Brachlegung. [65] Demokratische Selbstbestimmung funktioniert eben längst nicht mehr in nur einer staatlich organisierten (Wähler)Öffentlichkeit. Diese stimmzettelt sich immer regelmäßiger ins Patt und im östlichen Europa nachvollzieht sich dieser Prozeß beschleunigt. Übrig bleiben neue Fürstentümer. Politische Entscheider können sich auf das Patt verlassen. Doch Volkes Druck wächst. Um einer öffentlichen Willensbildung im Detail Rechnung zu tragen, werden Entscheidungen zukünftig direkt von den betroffenen Teilöffentlichkeiten verabschiedet werden müssen: »think local, act global«, das ein vormaliges Paradigma »think global, act local« ablösen soll, will man einschlägigen Diskursen glauben. Diese Öffentlichkeiten werden sich nur mühsam konsolidieren – wenn sie sich überhaupt schon gefunden haben – und je eigene Handlungsstrukturen entwickeln müssen. Dazu zählen vor allem Alternativkonzepte zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung, um nicht zu einer Miniaturfolie staatlicher Politiken zu werden.
In ein brachgelegtes Gelände kann man langfristig keine irgendwie geartete »politische Machbarkeit« implementieren, sie erwächst dort im Wettstreit der Interessen und Emotionen, ergibt eben nicht aus allen (fotografischen) Blickwinkeln ein für alle »schönes« Bild. Muß es ja auch nicht. Prozesse visualisieren, statt sogenannte Lösungen? Baustellen bauen. Aber ob das zum Fazit taugt? Es bleibt für den Themenschwerpunkt dieser Plattform die Frage offen, in wie weit "Kunst im öffentlichen Raum" und künstlerische Interventionen überhaupt an der (Er)Findung disparater Nutzungs- und Erlebniskonzepte unserer (Stadt)Landschaften beteiligt sein können. Vielleicht, indem wir die regelmäßigen kleinen Streifzüge wie diesen nicht aufgeben, der (Stadt)Landschaft zuliebe. Zum Ausklang noch ein kleines Landschaftsbild aus Nettelnburg:
Als Fallschirmspringer in Nettelnburg, Fotos: um
Aufgrund eines freundschaftlichen Tipps besuchte ich diesen Ort als »Fallschirmspringer«, mit der S-Bahn. Nach 15 Minuten Fahrt taucht mitten im Nichts der Felder das Hochhausensemble der Satellitenstadt Nettelnburg auf. »Raus aus der Bahn und dann einfach durch die Fußgängerzone und Du stehst genau davor«, wurde mir mit auf den Weg gegeben. Also über die Fußgängerbrücke, vorbei am Gyrosbrater, dem Supermarkt, einigen kleinen Ladengeschäften, alles im Stile der alten Ladenzeile in der City Nord. Doch hier ist alles in Funktion, sehr praktisch eingerichtet, nach der Arbeit von der Bahn kommend schnell noch Einkäufe tätigen. Hier sind die längeren Öffnungszeiten sicherlich ein Segen. Dann ein paar Treppenstufen runter und ganz unvermittelt lande ich auf einen Platz, direkt vor mir ein Monstrum von einer Skulptur, die sowohl Bühne als auch Tribüne sein könnte. Sehr einprägsam. Und da, gleich hinter dieser utopischen Klausel aus Stahl und Beton liegt die kleine Gartenanlage, in einem schmalen Zwischenbereich vor der imposanten Wohnbunkerfassade.
Funktionale Idylle mit Wasserstelle in Nettelnburg, Fotos: um
Ich suche den ersten Standpunkt für ein Foto, doch das ist gar nicht so einfach. Eingezäunt – das war nicht immer so, wurde mir vorab berichtet – liegen kleine Einheiten mit Beeten um einen einfachen Brunnen, der nicht nur schön, sondern vor allem praktisch sein soll, um die Zöglinge im Garten auch in trockenen Tagen bei Wachstum zu halten. Ein paar Schritte weiter ins Quartier die übliche Grünfläche. Und doch ist einiges anders als ich das gewohnt bin: Die Bänke sind nicht einfach hingestellt, sondern in kleinen Lauben versteckt. Die Ränder zwischen den Wegen und dem Grün sind verwachsen. Hier habe ich keine Hemmschwelle, den Rasen zu betreten, um nach neuen fotografischen Aussichtspunkten Ausschau zu halten. Eine Anwohnerin im 1. Stock des Hochhauses macht es sich auf dem Balkon bequem. Ich spreche sie an, um mehr über die kleine Anlage zu erfahren. Sie wohnt seit drei Jahren hier, der Garten war damals schon angelegt. Wie, wann und warum er entstand, darüber weiß sie nichts. Ich behaupte sicherlich nichts falsches, wenn ich rundweg annehme, dass sie als gebürtige Osteuropäerin diesen Ausblick vom Balkon einem Blick auf nackte Rasenflächen unbedingt vorzieht. Und wie entspannend muß es ab April erst sein, den Anwohnern bei der Gartenarbeit zuzuschauen ...
Geschützte Sitzgelegenheiten in Nettelnburg, Foto: um
Auf dem Rückweg entdecke ich noch ein kirchliches Gemeindehaus und eine Kindertagesstätte direkt vor dem Einkaufszentrum. So im Juni, wenn die Beete fruchtbar sind, werde ich hier unbedingt nochmal vorbeischauen – auf ein Gyros und eine Stunde im Park.
Fußnoten
[1] Die Interviews hat der Autor im November 2006 geführt mit:
Wohnungsgenossenschaft Langenfelde eG (Anke Finger, Katarzyna Nowak, Simone Zückler) Baugenossenschaft der Buchdrucker eG (Joachim Thorns, Frank Seeger, Florentine Vötig) SAGA Geschäftsstelle Hamburg-Mitte (Thomas Sies)
aus: »treppenspiel 2«, ISBN 978-3-938218-05-1, eBook, hyperzine verlag
[2] Lucius Burckhardt, »Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft«, Martin Schmitz Verlag, ISBN 978-3-927795-42-6
[3] ebd. S. 251
[4] ebd. S. 254
[5] ebd. S. 255
[6] ebd. S. 257
[7] ebd. S. 351
[8] ebd. S. 258
[9] ebd. S. 202 f
[10] Im Rundfunk der 60er Jahre war die live am Klavier eingespielte Überleitung zwischen den Stücken aus der Konserve ein güngiges Verfahren, den Klangraum nicht abbrechen zu lassen.
[11] vgl. dazu die Auflistung in »Gehen«, Dietrich Garbrecht, S. 61 ff
[12] »Gehen«, Dietrich Garbrecht, S.35
[13] Lucius Burckhardt, »Warum ist Landschaft schön?«, S. 141
[14] ebd. S. 74
[15] vgl. dazu »Im Käfig« von Petra Streitberger, Süddeutsche Zeitung vom 10.10.2006
[16] »Verbotene Städte«, ISBN 3-8042-0822-3
[17] vgl. Wikipedia, trend onlinezeitung, SI-Archiv
[18] vgl. Wikipedia
[19] vgl. Wikipedia
[20] vgl. Wikipedia
[21] Demnächst erscheint auf THE THING Hamburg ein Bericht der »Kartierungsgruppe« zur Großen Bergstraße in Altona.
[22] vgl. todayscacher.com
[23] Klassische Plattformen für Geocaching sind geocaching.com, geocaching.de oder opencaching.de
[24] Exodus 23:10-11, Leviticus 25:1-7
[25] Lucius Burckhardt, »Warum ist Landschaft schön?«, S. 73
[26] ebd. S. 140
[27] Wespennest Nr.110, »Brache als Kontext«, Lucius Burckhardt
[28] ebd.
[29] vgl. dazu Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm
[30] Wespennest Nr.110, »Brache als Kontext«, Lucius Burckhardt
[31] Die »Brache« Treppenhaus als Ort der Kommunikation sollte für ungewöhnliche Themen durch interaktive Konzepte unter tatkräftiger Mitarbeit der Mieter/innen erschlossen werden.
[32] Zitat Joachim Thorns, Vorstand Baugenossenschaft der Buchdrucker
[33] zum Beispiel www.buchticket.de und www.meinbuch-deinbuch.de
[34] Wespennest Nr.110, »Brache als Kontext«, Lucius Burckhardt
[35] vgl. dazu den TT-Artikel von Anne Vogelpohl
[36] vgl. dazu den TT-Artikel von Sebastian Grundke
[37] Zitat homepage Hafensafari
[38] Interview mit Martin Kohler auf TIDE-Radio
[39] vgl. dazu Wikipedia
[40] Zitat aus der Ankündigung zur Veranstaltung „Desperate Disparata. Dramaturgie disparater Erzählstrukturen«; des Medienforum München 2001
[41] Lucius Burckhardt, »Warum ist Landschaft schön?«, S. 137
[42] Wespennest 110, »Kitsch und Naturbegeisterung«, Burghart Schmidt, S. 41
[43] vgl. dazu den TT-Artikel von Nora Sdun
[44] vgl. hierzu die Diskussionen auf der Internetseite des Symposions der Hamburger Kunstorte 2006, »Wir sind woanders!«
[45] vgl. hierzu den TT-Artikel zum Kulturwirtschaftsbericht von Sarah Schreiner und Friedrich Tietjen
[46] vgl. dazu Nina Möntmann, »Kunst als sozialer Raum«, Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Bd.18, Verlag der Buchhandlung Walther K�nig, K�ln 2002, S. 67
[47] »Off– On – Off«, ein Versuch von Hajo Schiff, das spätere Symposion »Wir sind woanders!« 2006 im Kunsthaus Hamburg zu verorten und den schmalen Grad zwischen den Begriffen zur Diskussion zu stellen. Vgl. auch die Internetseite www.offoff.ch der Schweizer Non-Profit-Szene.
[48] vgl. dazu das berühmt-berüchtigte Bürgermeister-Zitat »eine lebendige und wachsende Kunstszene« (Ole von Beust).
[49] vgl. dazu den TT-Artikel von Pierangelo Maset
[50] vgl. dazu den offenen Brief der Jury zur Programmförderung der Hamburger Kunstorte durch die Kulturbehörde Hamburg für 2007
[51] Lucius Burckhardt, »Warum ist Landschaft schön?«, S. 293 f
[52] ebd. S. 336
[53] ebd. S. 337
[54] ebd. S. 351 f
[55] vgl. dazu den demnächst erscheinenden TT-Artikel »Public Blue: eine Besetzung des öffentlichen Raums« über Obdachlose Camper in Japan
[56] vgl. dazu Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm
[57] Zitat aus der Homepage der GIG (PDF)
[58] vgl. dazu die Homepage der GIG
[59] vgl. die Diskussionen des Vereins Lebendiges Altona e.V., veröffentlicht auf der Homepage der Großen Bergstraße.
[60] vgl. dazu den TT-Artikel von Christoph Twickel »Endziel Ankermieter – Eine Brache wird fertiggemacht«
[61] siehe den Flyer (PDF) des Vereins Lebendiges Altona e.V.
[62] vgl. das Protokoll (PDF) der Auswertung der Ideenwerkstatt des Vereins Lebendiges Altona e.V.
[63] Details im Flyer (PDF) zu 10° Kunst
[64] Nur zwei Beispiele: www.susi-projekt.de und www.syndikat.org
[65] Beispiel: www.autofreieswohnen.de